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Am Flussufer angekommen, wartete Mariam an der tags zuvor verabredeten Stelle. Über den Himmel zogen ein paar graue, blumenkohlförmige Wolken. Jalil hatte ihr erklärt, dass solche Wolken deshalb grau scheinen, weil ihre dichten oberen Schichten das Sonnenlicht schlucken und einen Schatten auf die unteren Schichten werfen. »Das, was du siehst, Mariam jo«, hatte er hinzugefügt, »ist ihr dunkler Unterleib.«

Es verstrich einige Zeit.

Mariam kehrte zur kolba zurück. Diesmal folgte sie dem Westrand der Lichtung, um Nana aus dem Weg zu gehen. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor eins.

Er ist ein Geschäftsmann, dachte Mariam. Irgendetwas hat ihn aufgehalten.

Sie ging wieder zum Fluss und wartete. Schwarzdrosseln flatterten durch die Luft und tauchten dann irgendwo im Gras unter. Sie sah einer Raupe zu, die über die Wurzel einer jungen Distel kroch.

Sie wartete, bis ihr die Beine wehtaten. Doch diesmal kehrte sie nicht zur kolba zurück. Sie krempelte sich die Hosenbeine hoch, überquerte den Fluss und marschierte zum ersten Mal in ihrem Leben talwärts Richtung Herat.

Nana irrte auch, was Herat betraf. Keiner zeigte mit dem Finger auf Mariam. Keiner lachte sie aus. In einem nicht abreißenden Strom von Fußgängern, Fahrradfahrern und Maultier-garis schlenderte sie durch zypressengesäumte Alleen, und da war niemand, der sie mit einem Stein beworfen hätte. Keiner nannte sie einen harami. Es nahm sie überhaupt kaum jemand zur Kenntnis. Sie war hier, unerwarteter- und wunderbarerweise, eine ganz gewöhnliche Person.

Inmitten eines großen Parks verbrachte Mariam eine Weile vor einem ovalförmigen Teich. Staunend betastete sie eines der wunderschönen Marmorpferde, die am Uferrand standen und mit leeren Augen aufs Wasser blickten. Mehrere Jungen ließen Boote auf den Wellen segeln. Überall blühten Blumen, Tulpen, Lilien und Petunien, strahlend im Sonnenlicht. Menschen schlenderten über die mit Kies bestreuten Pfade, saßen auf Bänken und tranken Tee.

Mariam konnte kaum glauben, hier zu sein. Ihr Herz pochte vor Erregung. Sie wünschte, Mullah Faizullah könnte sie jetzt sehen. Wie wagemutig er sie finden würde! Wie verwegen! Sie erträumte sich ein neues Leben in dieser Stadt, ein Leben mit einem Vater, mit Schwestern und Brüdern, ein Leben, in dem sie Liebe zeigen und Liebe erfahren würde, ohne Vorbehalt oder Verstellung, ohne Scham.

Freudig kehrte sie auf die breite Straße vor dem Park zurück. Sie kam an alten Straßenhändlern mit ledrigen Gesichtern vorbei, die im Schatten der Platanen hinter Pyramiden von Kirschen und Bergen von Weintrauben hockten und zu ihr aufblickten. Barfüßige Jungen rannten Autos und Bussen hinterher und winkten mit Tüten voller Quitten. Mariam stand am Straßenrand. Sie beobachtete die vorbeiziehenden Leute und konnte nicht verstehen, dass sie die Wunder ringsum kaum zu beachten schienen.

Schließlich fasste sie sich ein Herz und fragte den alten Betreiber eines Pferde-gari, ob er wisse, wo Jalil, der Kinobesitzer, wohne. Der Alte hatte ein pausbackiges Gesicht und trug einen gestreiften chapan in den Farben des Regenbogens. »Du bist nicht aus Herat, stimmt’s?«, sagte er leutselig. »Hier weiß nämlich jeder, wo Jalil Khan wohnt.«

»Würden Sie’s mir zeigen?«

Er wickelte einen Karamellbonbon aus dem Papier und fragte: »Bist du allein?«

»Ja.«

»Steig auf. Ich bring dich hin.«

»Ich kann aber nicht bezahlen. Ich habe kein Geld.«

Er gab ihr den Bonbon und sagte, dass er schon seit zwei Stunden keinen Fahrgast mehr befördert und ohnehin die Absicht habe, nach Hause zurückzukehren. Jalils Haus liege auf dem Weg.

Mariam kletterte auf den gari. Schweigend fuhren sie durch die Straßen. Mariam sah Kräuterläden und Verkaufsstände, die Orangen und Birnen, Bücher und Schals, ja, sogar Falken feilboten. Kinder hatten mit Stöcken Kreise in den Staub gezogen und spielten mit Murmeln. Vor einem Teehaus saßen auf einem hölzernen, mit Teppichen ausgelegten Podest Männer, die Tee tranken und aus Wasserpfeifen Tabak rauchten.

Der alte Mann bog in eine breite Straße ein, die von Nadelbäumen gesäumt wurde, und hielt nach wenigen Metern das Pferd an.

»Da wären wir. Du scheinst Glück zu haben, dokhtar jo. Das da ist sein Auto.«

Mariam sprang auf die Straße. Er lächelte ihr zu und kutschierte davon.

Mariam hatte nie zuvor ein Auto berührt. Sie strich mit den Fingerspitzen über die Kühlerhaube von Jalils Auto. Es war schwarz lackiert und glänzte, und in den blanken Radkappen sah sie ihr in die Breite gezogenes Spiegelbild. Die Sitze waren mit weißem Leder bezogen. Hinter dem Steuer entdeckte Mariam mehrere runde Uhren.

Für einen Moment glaubte sie Nanas Stimme zu hören, die sich über sie lustig machte und alle Hoffnung im Keim zu ersticken versuchte. Ihr wurde angst und bange. Auf zitternden Beinen näherte sie sich der Eingangstür des Hauses. Mit beiden Händen stützte sie sich an der Außenmauer ab. Sie waren so hoch, so einschüchternd, Jalils Mauern. Sie musste den Kopf bis weit in den Nacken zurücklegen, um die Spitzen der Zypressen zu sehen, die auf der anderen Seite standen und vom Wind bewegt wurden. Mariam stellte sich vor, dass sie sie winkend willkommen hießen.

Eine barfüßige junge Frau öffnete die Tür. Sie hatte eine Tätowierung unter der Unterlippe.

»Ich bin gekommen, um Jalil Khan zu sehen. Ich bin Mariam. Seine Tochter.«

Die junge Frau zeigte sich verwirrt. Dann schien ihr ein Licht aufzugehen. Die Lippen verzogen sich zu einem flüchtigen Lächeln. »Augenblick«, sagte sie, plötzlich ganz eifrig und erwartungsvoll.

Sie schloss die Tür.

Es verstrichen mehrere Minuten. Dann öffnete ein Mann die Tür. Er war groß und stämmig, schaute schläfrig aus den Augen und hatte ein ruhiges Gesicht.

»Ich bin Jalil Khans Chauffeur«, sagte er nicht unfreundlich.

»Sein was?«

»Sein Fahrer. Jalil Khan ist nicht zu Hause.«

»Aber da steht doch sein Auto«, sagte Mariam.

»Er ist geschäftlich unterwegs.«

»Wann wird er wieder zurück sein?«

»Das hat er offengelassen.«

Mariam sagte, sie wolle warten.

Er schloss die Tür. Mariam setzte sich auf den Boden und zog die Knie an die Brust. Es wurde Abend. Sie hatte Hunger und lutschte den Bonbon des gari-Kutschers. Nach einer Weile trat der Fahrer wieder vor die Tür.

»Du solltest nach Hause gehen«, sagte er. »In knapp einer Stunde wird es dunkel sein.«

»Das macht mir nichts aus.«

»Und es wird kalt werden. Komm, ich fahr dich nach Hause und werde ihm sagen, dass du hier gewesen bist.«

Mariam sah ihn bloß an.

»Dann bring ich dich in ein Hotel. Da kannst du in einem bequemen Bett schlafen. Und morgen sehen wir weiter.«

»Lassen Sie mich ins Haus.«

»Das darf ich nicht. Schau, keiner weiß, wann er zurückkommt. Womöglich erst in zwei, drei Tagen.«

Mariam verschränkte die Arme.

Der Fahrer seufzte, ein wenig ungehalten, wie es schien.

Mit den Jahren sollte Mariam noch häufig Gelegenheit haben, darüber nachzudenken, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn der Chauffeur sie zur kolba zurückgebracht hätte. Doch sie widersetzte sich und verbrachte die Nacht vor Jalils Haus. Es wurde dunkel, Schatten legten sich auf die Fassade des Nachbarhauses. Das tätowierte Mädchen brachte ihr Brot und einen Teller Reis. Mariam sagte, dass sie nichts haben wolle, doch das Mädchen stellte beides neben ihr auf dem Boden ab. Von Zeit zu Zeit hörte Mariam Schritte auf der Straße, Türen aufgehen, gedämpfte Stimmen. Elektrisches Licht wurde angeschaltet, sickerte durch die Fenster. Hunde bellten. Als sie dem Hunger nicht länger widerstehen konnte, leerte sie den Teller und aß das Brot. Sie lauschte den Zikaden in den Gärten. Am Himmel glitten Wolken vor einem bleichen Mond dahin.