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Laila wollte mehr über dieses Bergland wissen.

»Pir Panjal. Pakistan«, sagte er. »Rund zwei Stunden von Islamabad entfernt. Der Ort, an dem ich wohne, heißt Murree und zieht im Sommer viele Urlauber an, denn er ist hoch gelegen und hat, weil grün und luftig, ein wohltuend kühles Klima. Perfekt für den Tourismus.«

Die in Rawalpindi stationierten Briten, so erklärte er, hätten dort einen Vorposten eingerichtet, wohin sie sich vor der Hitze im Flachland zurückziehen konnten. Aus der Kolonialzeit sei noch einiges erhalten geblieben, sagte Tarik, zum Beispiel die Holzhäuser, Bungalows mit Blechdächern, sogenannte Cottages, und dergleichen mehr. Die Stadt selbst sei klein und angenehm. An der Hauptstraße, der sogenannten Mall, gebe es ein Postamt, einen Basar, ein paar Restaurants und Geschäfte, in denen Touristen überteuerte Nippes aus bemaltem Glas und handgeknüpfte Teppiche kauften. Verrückterweise sei diese Mall eine Einbahnstraße, auf der der Verkehr in der einen Woche von links nach rechts und in der anderen in umgekehrter Richtung geführt werde.

»Die Einheimischen behaupten, dass es in vielen irischen Ortschaften ähnlich zugeht«, sagte Tarik. »Keine Ahnung. Aber wie dem auch sei, es ist sehr nett dort. Ziemlich einfach, aber mir gefällt’s. Ich wohne gern in Murree.«

»Mit deiner Ziege. Mit Alyona.«

Laila wollte mit dem, was unbeabsichtigterweise wie ein Scherz klang, eigentlich in Erfahrung bringen, ob er sich außer der Ziege auch noch um andere Sorgen machen musste. Aber Tarik nickte nur mit dem Kopf.

»Auch um deine Eltern tut’s mir leid«, sagte er.

»Du hast davon gehört?«

»Ich hatte schon Gelegenheit, mit Nachbarn zu sprechen«, erwiderte er, und Laila fragte sich, was er sonst noch von denen erfahren haben mochte. »Von damals habe ich niemanden wiedererkannt.«

»Sie sind alle fort. Es ist keiner mehr da, den du kennen könntest.«

»Auch Kabul ist nicht wiederzuerkennen.«

»Für mich auch nicht«, sagte Laila. »Dabei bin ich nie weg gewesen.«

»Mami hat einen neuen Freund«, sagte Zalmai nach dem Abendessen. »Einen Mann.«

Raschid blickte auf. »Ach ja?«

Tarik fragte, ob er rauchen dürfe.

Er erzählte, dass er eine Zeit lang im Flüchtlingslager Nasir Bagh bei Peschawar zugebracht habe, unter sechzigtausend Afghanen, die sich dort bereits aufhielten, als er mit seinen Eltern angekommen sei.

»Es war da nicht so schlimm wie in manchen anderen Lagern, wie zum Beispiel in Jalozai«, sagte er und streifte Zigarettenasche auf einem Unterteller ab. »Während des kalten Krieges war es sogar ein Musterlager, auf das der Westen immer verwies, wenn es darum ging, der Welt zu beweisen, dass man nicht nur Waffen nach Afghanistan schmuggelte.«

Doch das sei noch zur Zeit des sowjetischen Krieges gewesen, in den Tagen des Dschihad, der weltweit Interesse erregt, für großzügige Spenden gesorgt und zu mehreren Staatsbesuchen von Margaret Thatcher geführt habe.

»Den Rest kennst du ja, Laila. Nach dem Krieg ist die Sowjetunion auseinandergefallen, und der Westen hat sich zurückgezogen. Für den Westen stand in Afghanistan nichts mehr auf dem Spiel. Also blieb auch finanzielle Hilfe aus. Nasir Bagh ist jetzt eine Wüste aus Zelten und offenen Abwasserkanälen. Einmal am Tag gibt es was zu essen. Als wir dort angekommen sind, hat man uns eine Stange und eine Zeltplane gegeben, mit denen wir uns dann selbst behelfen mussten.«

Tarik und seine Eltern hatten ein ganzes Jahr im Lager zugebracht. Wenn er sich an Nasir Bagh zu erinnern versuche, sagte er, komme ihm vor allem die Farbe Braun in den Sinn. »Braune Zelte. Braune Menschen. Braune Hunde. Brauner Brei.«

Tag für Tag war er auf einen abgestorbenen Baum geklettert, hatte sich auf einen Ast gesetzt und die Flüchtlinge beobachtet, die mit schwärenden Wunden und amputierten Gliedmaßen ungeschützt in der Sonne lagen. Er sah kleine ausgehungerte Jungen in Benzinkanistern Wasser schleppen, Hundekot einsammeln, um Feuer damit zu machen, mit stumpfen Messern aus Holzstücken Spielzeuggewehre schnitzen und Säcke voller Mehl, das zum Brotbacken völlig ungeeignet war, über den Boden schleifen. Ständig ging ein Wind durchs Lager, der an den Zelten rüttelte, Staub und welkes Unkraut aufwirbelte, aber auch bunte Drachen über dem ansonsten trostlosen Ort am Himmel tanzen ließ.

Jede Woche sei mindestens einer gestorben, sagte er, meist ein Kind.

»Die Kinder hatten besonders zu leiden. Ruhr, Tb, Hunger, was auch immer. Vor allem die verdammte Ruhr. Himmel, Laila. Wie oft ich da gesehen habe, wie Kinder begraben wurden. Etwas Schlimmeres kann man sich nicht vorstellen.«

Er schlug die Beine übereinander. Es blieb für eine Weile still zwischen ihnen.

»Mein Vater hat den ersten Winter nicht überlebt. Er starb im Schlaf. Ich glaube, er hat kaum Schmerzen gehabt.«

Im selben Winter sei seine Mutter an einer Lungenentzündung erkrankt, an der sie bestimmt gestorben wäre, hätte ihr nicht ein Arzt aus einem UNHCR-Camp geholfen, der mit einem zu einer mobilen Klinik umgebauten Lieferwagen ins Lager kam. Sie habe nächtelang wach gelegen, hohes Fieber gehabt, schrecklich gehustet und rostfarbenen Schleim ausgeworfen. Die Patienten hätten vor der mobilen Klinik Schlange gestanden, sagte er, zitternde, stöhnende und hustende Menschen; manchen sei der Durchfall an den Beinen heruntergelaufen, andere hätten vor lauter Mattigkeit und Hunger kein Wort mehr herausgebracht.

»Aber er war ein guter Mann, dieser UNHCR-Arzt. Er hat meine Mutter behandelt, ihr Medikamente gegeben und über den Winter geholfen.«

In diesem Winter habe er einen Jungen überfallen, gestand Tarik.

»Zwölf, vielleicht dreizehn Jahre alt«, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich habe ihm eine Glasscherbe an den Hals gedrückt und seine Wolldecke abgenommen, um sie meiner Mutter zu geben.«

Nach der überstandenen Krankheit seiner Mutter hatte er gelobt, keinen weiteren Winter in dem Lager zu verbringen, und den Entschluss gefasst, eine Arbeit anzunehmen und Geld zu sparen, um dann mit ihr in Peschawar eine Wohnung mit Heizung und fließendem Wasser zu beziehen. Als der Frühling kam, suchte er nach Arbeit. Von Zeit zu Zeit kam frühmorgens ein Lastwagen ins Lager, sammelte zwanzig bis dreißig junge Burschen ein und lieferte sie an einem Ort ab, wo es etwas für sie zu tun gab: ein Feld, das von Steinen befreit werden sollte, oder eine Obstplantage, auf der Äpfel zu pflücken waren. Zum Lohn dafür bekamen sie ein wenig Geld, manchmal auch nur eine Decke oder ein Paar Schuhe. Ihn aber habe niemand gewollt, sagte er.

»Ein Blick auf mein Bein, und das war’s dann.«

Es gab noch andere Jobs. Gräben ausheben, Hütten bauen, Wasser schleppen oder Sickergruben leeren. Die jungen Männer rissen sich um solche Verdienstmöglichkeiten, und Tarik ging immer leer aus.

Im Herbst 1993 lernte er dann einen Geschäftsmann kennen.

»Ich sollte für ihn einen Ledermantel nach Lahore bringen, wofür er mir Geld anbot, nicht viel, aber genug, um eine Wohnung für einen, vielleicht sogar zwei Monate anmieten zu können.«

Der Geschäftsmann habe ihm einen Busfahrschein gegeben und die Adresse einer Straßenecke nahe der Eisenbahnstation von Lahore, wo er den Mantel einem Freund seines Auftraggebers übergeben sollte.

»Ich ahnte natürlich, dass an der Sache was faul ist. Ich wusste es«, gestand er. »Er sagte, dass ich ganz allein auf mich gestellt sein würde, wenn man mich erwischte, und ich solle immer daran denken, dass er wisse, wo meine Mutter zu finden sei. Aber ich habe dem Geld nicht widerstehen können. Und es war bald wieder Winter.«

»Wie weit bist du gekommen?«, fragte Laila.

»Nicht sehr weit«, sagte Tarik und lachte verschämt. »Noch nicht einmal bis in den Bus. Aber ich hielt mich für immun, verstehst du? Ich dachte, mir kann nichts passieren. Als gäbe es da oben einen, der Buch führt, einen netten alten Mann mit Bleistift hinterm Ohr, der alles aufrechnet und Bilanz zieht, der auf mich herabschaut und sagt: ›Was soll’s, das lassen wir ihm durchgehen. Er musste schon sein Teil bezahlen und hat was gut.‹«