Das Licht in Mariams Zimmer schimmerte dunkelgrau; es hatte jene Tönung, mit der Laila immer krähende Hähne und taufrisches Gras in Verbindung brachte. Mariam kniete auf ihrem Gebetsteppich, das Gesicht dem Fenster zugewandt. Langsam ging Laila in die Knie und nahm ihr gegenüber auf dem Boden Platz.
»Du solltest gleich losgehen und Aziza besuchen«, sagte Mariam.
»Ich glaube, ich weiß, was du vorhast.«
»Geh nicht zu Fuß. Nimm den Bus. Als einziger Fahrgast in einem Taxi würdest du auffallen und aufgehalten werden.«
»Dein Versprechen von letzter Nacht…« Laila stockte. Die Bäume, der See, der entlegene Ort. All das war zu schön, um wahr zu sein. Mariam hatte sie nur besänftigen wollen. So wie man ein verstörtes Kind mit fantastischen Geschichten zu beruhigen versuchte.
»Ich habe es so gemeint«, sagte Mariam. »Für dich, Laila jo.«
»Ohne dich will ich es nicht«, krächzte Laila.
Mariam lächelte matt.
»Ich möchte, dass es genauso wird, wie du es gesagt hast, Mariam, für uns alle, für dich, mich und die Kinder. Tarik hat eine Wohnung in Pakistan. Dort könnten wir uns für eine Weile versteckt halten und abwarten, bis Gras über die Sache gewachsen ist…«
»Nein. Das wäre nicht möglich«, entgegnete Mariam geduldig wie zu einem Kind, das es gut meinte, aber einem Irrtum erlag.
»Wir kümmern uns umeinander«, beharrte Laila stammelnd und mit Tränen in den Augen. »Wie du es vorgeschlagen hast. Nein. Zur Abwechslung werde ich mich um dich kümmern.«
»Oh, Laila jo.«
Laila ließ nicht locker. Sie flehte und feilschte. Sie versprach, den Haushalt ganz allein zu führen. »Du brauchst keinen Handschlag zu tun. Nie wieder. Du ruhst dich aus, schläfst, solang du willst, und legst einen kleinen Garten an. Du tust, was dir gefällt, und ich erfülle dir jeden Wunsch. Lass uns nicht allein, Mariam. Es bräche uns, Aziza und mir, das Herz.«
»Einem Brotdieb werden die Hände abgeschlagen«, erwiderte Mariam. »Was glaubst du, haben Frauen zu erwarten, deren Ehemann tot aufgefunden wird?«
»Wir machen uns aus dem Staub«, hauchte Laila.
»Früher oder später wird man uns schnappen. Sie sind wie Bluthunde.« Mariam sprach mit leiser, vorsichtiger Stimme. Verglichen mit ihren Worten, klangen Lailas Versprechungen abwegig und töricht.
»Mariam, bitte…«
»Und wenn sie uns aufgreifen, sind wir alle geliefert. Auch Tarik. Ich will nicht, dass ihr in ständiger Angst lebt und von einem Ort zum anderen fliehen müsst. Was wird mit den Kindern geschehen, wenn sie dich stellen?«
Laila vergoss heiße Tränen.
»Wer wird sich dann um sie kümmern? Die Taliban? Sei vernünftig, Laila jo. Vergiss nicht, du bist eine Mutter.«
»Ich kann nicht.«
»Du musst.«
»Aber es ist ungerecht«, ächzte Laila.
»Was soll’s? Komm her. Komm zu mir.«
Laila rückte näher und legte den Kopf auf Mariams Schoß. Sie erinnerte sich an all die gemeinsam verbrachten Nachmittage; während sie sich gegenseitig das Haar flochten, hatte Mariam immer ihren weitschweifenden Gedanken und Geschichten zugehört, voller Dankbarkeit und mit einem Ausdruck im Gesicht, als würde ihr ein einzigartiges Privileg zuteil.
»Es ist recht so«, sagte Mariam. »Ich habe unseren Ehemann getötet. Ich habe deinem Sohn den Vater genommen. Es wäre falsch, wenn ich fliehen würde. Ich kann es nicht. Selbst wenn uns die Flucht gelänge, könnte ich niemals…« Ihre Lippen zitterten. »Ich könnte der Trauer deines Sohnes nicht entkommen. Wie sollte ich ihm jemals wieder guten Gewissens unter die Augen treten, Laila jo?«
Mariam fuhr Laila durch das Haar und zupfte an einer Locke.
»Für mich ist die Sache hier abgeschlossen. Mir bleibt nichts zu wünschen übrig. Was ich mir als kleines Mädchen erhofft habe, hast du mir gegeben. Du und deine Kinder haben mich glücklich gemacht. Es ist gut so, Laila jo. Wirklich. Sei nicht traurig.«
Laila hatte keine überzeugende Antwort parat. Trotzdem redete sie auf Mariam ein, in unvollständigen Sätzen und fahrig stammelnd wie ein Kind. Sie sprach von Obstbäumen, die zu pflanzen seien, und von Hühnern, die es großzuziehen gelte, von kleinen Hütten in namenlosen Dörfern und Ausflügen an Seen, in denen es von Forellen nur so wimmelte. Am Ende versiegten die Worte, nicht so die Tränen. Sie schluchzte wie ein Kind, das gegen die bittere Logik der Erwachsenen nicht anzukommen vermochte und dem nichts anderes übrig blieb als nachzugeben. Laila kauerte sich zusammen und legte ein letztes Mal den Kopf auf Mariams Schoß.
Später am Morgen packte Mariam für Zalmai ein Stück Brot und getrocknete Feigen ein. Ein zweites Proviantpaket, gefüllt mit Feigen und Keksen in Form von Tieren, war für Aziza bestimmt. Sie steckte alles in einen Papierbeutel, den sie Laila reichte.
»Gib Aziza einen Kuss von mir. Sag ihr, dass sie der noor meiner Augen ist und mein Ein und Alles. Willst du ihr das ausrichten?«
Laila nickte und presste die Lippen aufeinander.
»Nimm den Bus, wie gesagt, und halte den Kopf gesenkt.«
»Wann werde ich dich sehen, Mariam? Ich möchte dich sehen, bevor ich meine Aussage mache. Ich werde ihnen sagen, wie es passiert ist, und erklären, dass es nicht deine Schuld war. Dass du nicht anders konntest. Sie werden Verständnis dafür haben, meinst du nicht auch, Mariam? Sie werden nachsichtig sein.«
Mariam antwortete mit einem sanften Lächeln.
Sie ging in die Hocke, um Zalmai in die Augen zu schauen. Er trug ein rotes T-Shirt, eine verschlissene Hose und die Cowboystiefel, die Raschid aus zweiter Hand auf dem Markt von Mandaii gekauft hatte. Mit beiden Händen hielt er seinen neuen Basketball gepackt. Mariam gab ihm einen Kuss auf die Wange.
»Sei jetzt ein guter, starker Junge«, sagte sie. »Und sei lieb zu deiner Mutter.« Sie nahm sein Gesicht in die Hände. Er wich zurück, doch sie hielt an ihm fest. »Es tut mir leid, Zalmai jo. Glaub mir, dass du traurig bist und Kummer hast, tut mir sehr leid.«
Laila nahm Zalmai bei der Hand und ging mit ihm auf die Straße hinaus. Bevor sie um die Ecke bogen, schaute Laila zurück und sah Mariam in der Tür stehen. Mariam hatte einen weißen Schal um den Kopf gewickelt. Sie trug eine dunkelblaue zugeknöpfte Strickjacke und eine weiße Baumwollhose. Sonnenstrahlen streiften ihr Gesicht. Sie winkte freundlich.
Laila und Zalmai bogen um die Ecke und sahen Mariam nie wieder.
47
Nach all den Jahren, so schien es, wieder zurück in einer kolba.
Das Frauengefängnis Walayat war ein würfelförmiges graues Gebäude in Shar-e-Nau nahe der Hühnerstraße. Es befand sich inmitten eines größeren Komplexes, der Haftanstalt für Männer. Ein mit Vorhängeschlössern abgesichertes Tor trennte Mariam und die anderen Frauen von den anderen Teilen des Gefängnisses. Mariam zählte vier belegte Zellen, kleine kahle Kammern, in denen der Putz von den Wänden bröckelte. Die unverglasten Fensterluken waren vergittert und blickten auf den Innenhof, den die Frauen nach Belieben aufsuchen konnten, denn die Türen zu ihren Zellen blieben unverschlossen. Weil es keine Vorhänge vor den Fenstern gab, konnten die Wärter, die im Hof patrouillierten, ungehindert Einblick nehmen. Einige Frauen beschwerten sich darüber, dass die Wärter vor ihren Fenstern rauchten, sie, die Gefangenen, mit lüsternen Blicken begafften und zotige Witze rissen. Aus diesem Grund trugen die meisten Frauen den ganzen Tag über Burkas, die sie erst nach Sonnenuntergang ablegten, wenn die Pforte abgeschlossen war und die Wärter ihre Posten eingenommen hatten.