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Nachts war es stockdunkel in der Zelle, die sich Mariam mit fünf Frauen und vier Kindern teilte. Wenn es ausnahmsweise Strom gab, wurde Naghma, eine klein gewachsene junge Frau mit flacher Brust und schwarzem krausem Haar, unter die Decke gehoben, aus der ein Stück abisoliertes Kabel heraushing. Naghma klemmte dann mit der Hand die Phasen an eine Glühbirne und sorgte so für Licht.

Die Toiletten waren so groß wie Kleiderschränke. In der Mitte des an mehreren Stellen aufgesprungenen Betonbodens befand sich ein kleines rechteckiges Loch, darunter ein Haufen Unrat. Fliegen schwirrten durch dieses Loch ein und aus.

Mitten auf dem rechteckigen Innenhof gab es eine Wasserstelle, die aber keinen Ablauf hatte, weshalb der Hof meistens verschlammt war. An einem Gewirr aus Wäscheleinen hingen Socken und Windeln zum Trocknen. Hier empfingen die Insassen auch ihre Besucher; hier wurde der Reis gekocht, den die Familien mitbrachten — das Gefängnis gab selbst kein Essen aus. Der Hof war gleichzeitig auch Spielplatz der Kinder, von denen viele, wie Mariam erfuhr, in Walayat zur Welt gekommen waren und die Welt jenseits dieser Mauern noch nie gesehen hatten. Mariam sah ihnen beim Spielen zu und wie sie auf bloßen Füßen durch den Matsch tollten. Den ganzen Tag tobten sie herum, ungeachtet des Gestanks, der dem gesamten Gelände und ihren eigenen Körpern anhaftete; auch von den Taliban nahmen sie keine Notiz, es sei denn, sie wurden geschlagen.

Mariam hatte keine Besucher. Es war das Erste und Einzige, worum sie die Gefängnisleitung gebeten hatte: keine Besucher.

Keine der anderen Frauen in Mariams Zelle saß wegen eines Gewaltverbrechens ein. Sie büßten alle dafür, von zu Hause weggelaufen zu sein, was viele Frauen versuchten. Als Mörderin genoss Mariam eine Sonderstellung. Die Frauen betrachteten sie mit Respekt, fast ehrfürchtig. Sie boten ihr ihre Decken an und rissen sich geradezu darum, sie an ihrem Essen teilhaben zu lassen.

Besonders angetan von Mariam war Naghma, die ihr mit verschränkten Armen auf Schritt und Tritt folgte. Naghma empfand offenbar ein eigentümliches Vergnügen daran, von Unglücksfällen zu berichten, die nicht zuletzt ihre eigene Person betrafen. Sie erzählte, dass ihr Vater sie einem Schneider versprochen habe, der an die dreißig Jahre älter sei als sie.

»Er stinkt wie goh und hat weniger Zähne im Mund als Finger an der Hand«, beschrieb Naghma den Schneider.

Sie hatte mit einem jungen Mann, dem Sohn eines Mullahs, nach Gardez zu fliehen versucht, war aber nicht weit gekommen. Nach ihrer Gefangennahme war der Mullah-Sohn ausgepeitscht worden, bis er sich reuig zeigte und sagte, dass Naghma ihn mit ihren weiblichen Reizen verführt habe. Er sei von ihr in eine Art Bann geschlagen worden, sagte er und versprach, sich hinfort voll und ganz dem Studium des Koran zu widmen. Er wurde freigelassen, Naghma zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Hier im Gefängnis sei sie wenigstens in Sicherheit, sagte sie; ihr Vater habe geschworen, ihr am Tag ihrer Freilassung die Kehle aufzuschlitzen.

Als Naghma dies erzählte, fühlte sich Mariam an jenen Morgen vor langer Zeit zurückversetzt, als vor verlöschenden kalten Sternen rosarote Wolkenschlieren über das Safid-koh-Gebirge zogen und Nana zu ihr sagte: »So wie eine Kompassnadel immer nach Norden zeigt, wird der anklagende Finger eines Mannes immer eine Frau finden. Immer. Denk daran, Mariam.«

Mariams Prozess hatte vor einer Woche stattgefunden. Es gab keine Verhandlung, keine Rechtsberatung, keine Beweisaufnahme, keinen Einspruch. Mariam verzichtete auf die Aussage von Entlastungszeugen. Das gesamte Verfahren dauerte nicht länger als eine Viertelstunde.

Ihr saßen drei Männer gegenüber; der in der Mitte, ein gebrechlicher alter Talib, war allem Anschein nach der Vorsitzende Richter. Er war außergewöhnlich hager, hatte eine gelbliche, lederne Haut und einen krausen roten Bart. Er trug eine Brille, die seine Augen vergrößerte und erkennen ließ, dass sich das Weiß der Augäpfel gelb verfärbt hatte. Der dünne Hals schien kaum geeignet, den Kopf samt sorgsam gewickeltem Turban tragen zu können.

»Sie sind geständig, hamshira?«, fragte er mit müder Stimme.

»Ja«, antwortete Mariam.

Der Mann nickte. Vielleicht auch nicht. Das Zittern seiner Hände und des Kopfes erinnerten Mariam an Mullah Faizullahs Tremor. Wenn er einen Schluck Tee trinken wollte, ließ er sich von dem stämmigen Mann zu seiner Linken das Glas an die Lippen führen.

Dann schloss er die Augen und dankte mit stummer, vornehmer Geste.

Er hatte, wie Mariam fand, etwas Entwaffnendes an sich. Wenn er sprach, schwangen sowohl Arglist als auch Zärtlichkeit in seiner Stimme mit. Er lächelte geduldig und blickte nicht mit Verachtung auf Mariam herab. Seine an sie gerichteten Worte waren ohne Gehässigkeit oder Vorwurf, ja sogar in einem eher entschuldigenden Ton vorgetragen.

»Ist Ihnen klar, was das heißt?«, fragte der knochige Talib zu seiner Rechten. Er war der jüngste der drei, redete sehr schnell und überheblich und gab sich besonders selbstsicher. Es irritierte ihn, dass Mariam kein Paschto sprach. Auf sie machte er den Eindruck eines jener streitsüchtigen jungen Männer, die es genießen, Macht auszuüben, überall Verstöße sehen und es für ihr Geburtsrecht halten, Urteile zu fällen.

»Ja«, antwortete Mariam.

»Ich weiß nicht«, entgegnete der junge Talib. »Nach Gottes Willen sind Mann und Frau verschieden. Unsere Gehirne funktionieren anders. Ihr Frauen könnt unseren Gedanken nicht folgen. Das ist von westlichen Ärzten und Wissenschaftlern nachgewiesen worden. Darum hat für uns die Aussage eines Mannes ebenso viel Gewicht wie die von zwei Frauen.«

»Ich habe meine Tat gestanden, Bruder«, sagte Mariam.

»Aber hätte ich sie nicht begangen, wäre sie nun tot. Er hat

sie gewürgt.«

»Das sagten Sie bereits. Aber Frauen behaupten vieles.«

»Es ist die Wahrheit.«

»Haben Sie, abgesehen von Ihrer ambagh, irgendwelche Zeugen?«

»Nein.«

»Na dann…« Er warf die Hände in die Luft und verzog das Gesicht.

Als Nächstes sprach der kränkliche Talib.

»Ich bin bei einem Arzt in Peschawar in Behandlung«, sagte er. »Er ist ein sehr tüchtiger junger Pakistani. Erst letzte Woche war ich bei ihm. Ich bat ihn, mir die Wahrheit zu sagen, Freund, und er antwortete: ›Ich gebe Ihnen drei Monate, Mullah sahib, höchstens sechs, wenn Gott will.‹«

Er nickte dem Mann zur Linken zu und nahm einen weiteren Schluck Tee aus dem gereichten Trinkglas. Mit dem Rücken der zitternden Hand wischte er sich über den Mund. »Es macht mir keine Angst, aus diesem Leben zu scheiden. Mein einziger Sohn ist mir schon vor fünf Jahren vorausgegangen. Dieses Leben bereitet uns Kummer über Kummer, bis wir daran zerbrechen. Nein. Ich glaube, ich darf glücklich sein, dass ich bald daraus entlassen werde.

Was mich allerdings beunruhigt, hamshira, ist, dass ich vor Gott treten werde und er mich fragen wird: ›Warum hast du nicht getan, was ich von dir verlangt habe, Mullah? Warum hast du meinen Gesetzen nicht gehorcht?‹ Wie werde ich mich Ihm gegenüber rechtfertigen können, hamshira? Wie entlaste ich mich von dem Vorwurf, ungehorsam gewesen zu sein? Alles, was ich tun kann — was wir in der uns verbleibenden Zeit tun können —, ist, den Gesetzen zu entsprechen, die Er uns gegeben hat. Je deutlicher ich mein Ende vor Augen sehe, hamshira, je näher der Tag meines Todes heranrückt, desto entschlossener bin ich, Sein Wort zu erfüllen. So schmerzlich es auch sein mag.«

Er rutschte ächzend auf seinem Stuhl hin und her. Seine Kollegen richteten das bestickte Kissen, auf dem er saß.

»Ich glaube Ihnen, wenn Sie sagen, dass Ihr Mann sehr jähzornig war«, fuhr er fort und fixierte Mariam durch seine dicke Brille. Sein Blick war ernst und mitfühlend zugleich. »Nichtsdestotrotz schockiert mich die Brutalität Ihrer Tat, hamshira. Mich entsetzt, was Sie getan haben, während sein kleiner Junge im Schlafzimmer eingeschlossen war und weinte.