Die Erleichterung auf Azizas Gesicht ging Laila zu Herzen.
Tarik hat für Zalmai ein Schaukelpferd besorgt und einen kleinen Handwagen gebastelt. Von einem Mitgefangenen hat er gelernt, Tiere aus Papier zu falten, und so verwandelt er, um Zalmai eine Freude zu machen, zahllose Blätter in Löwen und Kängurus, in Pferde und bunte Vögel. Zalmai aber zeigt sich unbeeindruckt und weist seine Geschenke meist gelangweilt, manchmal zornig zurück.
»Du bist ein Esel!«, schreit er. »Ich will dein Zeugs nicht.«
»Zalmai!«, schreckt Laila auf.
»Ist schon gut«, sagt Tarik. »Lass ihn nur.«
»Du bist nicht mein Baba jan. Mein wirklicher Baba jan ist verreist, und wenn er zurückkommt, haut er dich. Und du wirst ihm nicht weglaufen können, denn er hat zwei Beine und du hast nur eins.«
Abends hebt Laila ihren Sohn auf den Schoß und spricht mit ihm die Babalu-Gebete. Seinen Fragen weicht sie jedes Mal aufs Neue aus und antwortet, dass sein Baba jan weggefahren sei und sie nicht wisse, wann er zurückkommt. Es ist ihr schrecklich, das Kind zu täuschen.
Laila glaubt an dieser beschämenden Lüge festhalten zu müssen. Zalmai fragt immer wieder, er fragt, wenn er von einer Schaukel springt oder von einem Mittagsschlaf erwacht. Auch später, wenn er so alt ist, dass er sich selbst die Schuhe schnüren kann und zur Schule geht, wird sie ihn belügen müssen.
Irgendwann, so hofft Leila, wird er aufhören zu fragen, wo sein Vater geblieben sei und warum er ihn im Stich gelassen habe. Er wird ihn nicht mehr in all den älteren Männern wiederzuerkennen meinen, die gebückt über die Straße schlurfen oder unter den Vordächern von Samowarhäusern Tee trinken. Irgendwann einmal wird er, wenn er an einem Fluss entlangwandert oder über ein verschneites Feld schaut, feststellen, dass ihn das Verschwinden seines Vaters nicht länger beunruhigt und der Verlust verschmerzt ist. Dann werden die Erinnerungen an ihn vielleicht etwas Angenehmes sein, das es zu bewahren und zu ehren gilt.
Laila ist glücklich hier in Murree. Doch dieses Glück fliegt ihr nicht zu, es hat seinen Preis.
Wenn er frei hat, besucht Tarik mit Laila und den Kindern die Mall mit ihren Souvenirläden und der anglikanischen Kirche, die Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut wurde. Von einem Straßenhändler kauft Tarik für sie scharf gewürzte chapli-Kebabs. Sie spazieren durch die Menge der Einheimischen, der europäischen Touristen mit ihren Mobiltelefonen und Digitalkameras und der Punjabi, die hierhergekommen sind, um der Hitze des Flachlands zu entfliehen.
Manchmal fahren sie mit dem Bus nach Kashmir Point. Von dort zeigt ihnen Tarik das Flusstal des Jhelum und die üppig grünen Hänge und Hügel, wo in den Kiefernwäldern, wie er sagt, Affen von Ast zu Ast springen. Oder sie fahren bis nach Nathia Gali, das dreißig Kilometer von Murree entfernt liegt. Dort nimmt dann Tarik Laila bei der Hand und führt sie und die Kinder über eine von Ahornbäumen gesäumte Straße zum Haus des Gouverneurs. Sie machen vor dem alten britischen Friedhof Rast oder fahren mit einem Taxi auf den Gipfel eines Berges, der eine herrliche Aussicht über das grüne, häufig nebelverhangene Tal bietet.
Wenn sie auf solchen Ausflügen an einem spiegelnden Fensterglas vorbeikommen, sieht Laila das Abbild von Mann, Frau, Tochter und Sohn. Fremden, so glaubt sie, werden sie wie eine ganz gewöhnliche Familie vorkommen, unbeschwert von Geheimnissen, Lügen und Leid.
Aziza wird manchmal von Albträumen heimgesucht, aus denen sie schreiend aufschreckt. Laila legt sich zu ihr auf die Matratze, trocknet ihre Wangen mit dem Ärmel und spricht ihr Trost zu, bis sie wieder eingeschlafen ist.
Auch Laila hat ihre Träume. Darin kehrt sie immer wieder in das Haus in Kabul zurück, geht durch den Flur und die Treppe hinauf. Sie ist allein, hört aber hinter den Türen ein Bügeleisen zischen und das Schnappen von Bettlaken, die mit einem Ruck gestrafft und dann zusammengelegt werden. Mitunter hört sie auch eine dunkle Frauenstimme ein altes Herati-Lied summen. Doch wenn sie die Tür öffnet, blickt sie in einen leeren Raum. Es ist niemand da.
Wenn sie aus solchen Träumen aufwacht, ist Laila schweißgebadet, und in den Augen brennen heiße Tränen. Sie ist jedes Mal erschüttert.
49
An einem Sonntag im September, als Laila Zalmai, der sich erkältet hat, gerade ins Bett legt, kommt Tarik in den Bungalow gestürzt.
»Hast du schon gehört?«, fragt er keuchend. »Er ist umgebracht worden. Ahmad Schah Massoud. Er ist tot.«
»Was?«
Tarik berichtet, was er in Erfahrung gebracht hat.
»Es heißt, dass er zwei Journalisten ein Interview geben wollte. Sie haben behauptet, gebürtige Marokkaner mit belgischem Pass zu sein, und während sie sich miteinander unterhalten, geht eine Bombe hoch, die in der Videokamera versteckt war. Massoud und einer der beiden Journalisten sollen auf der Stelle tot gewesen sein. Der andere wurde erschossen, als er wegzulaufen versuchte. Man geht davon aus, dass die Journalisten Mitglieder von al-Qaida waren.«
Laila erinnert sich an das Poster von Ahmad Schah Massoud, das Mami in ihrem Schlafzimmer an die Wand geheftet hatte. Darauf beugt sich Massoud vor und lupft eine Augenbraue; seine Miene ist konzentriert, und es scheint, dass er jemandem aufmerksam zuhört. Laila erinnert sich, wie dankbar ihre Mutter diesem Mann dafür gewesen war, dass er am Grab ihrer Söhne ein Gebet gesprochen hatte. Davon hatte sie allen erzählt. Selbst nachdem der Krieg zwischen seiner und anderen Fraktionen ausgebrochen war, hielt Mami ihn in Ehren. »Er ist ein guter Mann«, sagte sie immer. »Er will Frieden. Er will Afghanistan neu aufbauen. Aber man lässt ihn nicht. Man lässt ihn einfach nicht.« Selbst später noch, als Kabul in Trümmern lag, war Massoud für Mami nach wie vor der Löwe von Pandschir.
Laila ist weniger nachsichtig. Sein gewaltsames Ende kann sie zwar nicht froh stimmen, doch erinnert sie sich allzu gut an die unter seinem Kommando zerstörten Häuser in der Nachbarschaft, an die aus Trümmern geborgenen Toten, an die abgerissenen Hände und Füße von Kindern, die noch Tage nach ihrer Bestattung auf Hausdächern oder in den Zweigen von Bäumen entdeckt worden waren. Allzu deutlich erinnert sie sich an den Ausdruck im Gesicht ihrer Mutter, wenige Sekunden bevor die Rakete eingeschlagen war, und sosehr sie auch versucht hat, zu vergessen, sieht sie immer noch Babis zerfetzten Rumpf neben sich auf der Straße liegen, die aus dichtem Nebel und Blut aufragenden Brückenpfeiler, die auf sein T-Shirt gedruckt waren.
»Es wird ein Begräbnis geben, bei dem es zu einem Massenauflauf kommt«, sagt Tarik. »Da bin ich mir sicher. Wahrscheinlich in Rawalpindi.«
Zalmai, der fast eingeschlafen war, hat sich aufgerichtet und reibt sich die Augen mit geballten Fäusten.
Zwei Tage später, als sie gerade ein Gästezimmer aufräumen, werden unten im Hotel plötzlich Rufe laut. Tarik lässt den Besen fallen und eilt aus dem Zimmer. Laila folgt ihm.
Die lauten Stimmen kommen aus dem Foyer. Rechts neben der Rezeption befindet sich die Lounge mit einer sandfarbenen Sitzgarnitur aus mehreren Ledersesseln und zwei Sofas. In der Ecke steht ein Fernsehgerät, vor dem sich Sajid, der Portier und mehrere Gäste versammelt haben. Laila und Tarik drängen sich in den Raum.
Im Fernseher läuft eine Nachrichtensendung der BBC. Auf dem Bildschirm ist ein Wolkenkratzer zu sehen; aus den oberen Etagen steigt schwarzer Rauch auf. Tarik und Sajid wechseln gerade ein paar Worte, als am Rand des Bildschirms ein Flugzeug auftaucht. Es stürzt in den benachbarten Turm und explodiert in einem Feuerball, der so gewaltig ist, dass Laila ihren Augen nicht traut. Alle, die im Foyer sind, schreien auf.