Am Morgen wurde sie von Händen geweckt, die ihre Schultern gepackt hielten und schüttelten. Mariam bemerkte, dass ihr in der Nacht jemand eine Decke übergeworfen hatte.
Vor ihr stand der Fahrer.
»Jetzt reicht’s. Mach keine Geschichten. Bas. Es ist Zeit zu gehen.«
Mariam richtete den Oberkörper auf und rieb sich die Augen. Ihr Rücken und der Nacken schmerzten. »Ich werde auf ihn warten.«
»Schau«, sagte er. »Jalil Khan hat mir aufgetragen, dich zurückzufahren. Jetzt sofort. Verstehst du? Jalil Khan will es so.«
Er öffnete die hintere Beifahrertür. »Bia. Los jetzt«, sagte er geduldig.
»Ich möchte ihn sehen«, sagte Mariam, die Augen voller Tränen.
Der Fahrer seufzte. »Lass dich nach Hause fahren. Nun komm endlich, dokhtar jo.«
Mariam stand auf und ging auf ihn zu. Dann jedoch, im letzten Moment, änderte sie die Richtung und lief auf das Tor zu. Sie spürte die Finger des Fahrers nach ihrer Schulter greifen. Er versuchte, sie aufzuhalten; sie aber konnte ihn abschütteln und rannte durch das geöffnete Tor.
In den wenigen Sekunden, die sie in Jalils Garten war, bemerkte Mariam ein glänzendes Glashaus mit Pflanzen darin, Weinreben, die über hölzerne Spaliere rankten, einen von grauen Steinen eingefassten Fischteich, Obstbäume und überall Sträucher, die in hellen Farben blühten. Ihr Blick streifte all diese Dinge, bevor er plötzlich auf eines der Fenster im Obergeschoss fiel, hinter dem sich ein Gesicht zeigte, nur für einen flüchtigen Moment, aber lange genug, dass Mariam erkennen konnte, wie sich die Augen weiteten und der Mund öffnete. Dann war es wieder verschwunden. Stattdessen erschien eine Hand, die hektisch an einer Schnur zog. Vorhänge fielen herab.
Dann gruben sich Hände unter ihre Achseln und stemmten sie in die Luft. Mariam trat mit den Beinen aus. Die Kieselsteine fielen ihr aus der Tasche. Mariam trat und schrie, als sie zum Wagen getragen und auf das kühle Leder der Rückbank gesetzt wurde.
Mit gedämpfter Stimme versuchte der Fahrer, sie zu trösten. Mariam hörte nicht auf ihn. Während der gesamten Fahrt weinte sie, hin und her geworfen auf der Rückbank. Sie weinte Tränen des Kummers, der Wut und Enttäuschung, vor allem aber weinte sie aus Scham, der tiefen Scham darüber, dass sie so töricht gewesen war, auf Jalil vertraut und sich Sorgen darüber gemacht zu haben, ob der hijab zum Kleid passte; sie schämte sich, den weiten Weg zurückgelegt und, weil sie sich nicht hatte wegschicken lassen, wie ein streunender Hund die Nacht auf der Straße verbracht zu haben. Und sie schämte sich, dass sie sich ihrer Mutter widersetzt und ihr den Rücken gekehrt hatte. Nana, die recht behalten und sie gewarnt hatte.
Mariam musste immer wieder an sein Gesicht hinter dem Fenster denken. Er hatte sie auf der Straße schlafen lassen. Auf der Straße. Mariam legte sich auf die Rückbank und weinte. Sie wollte nicht gesehen werden. Sie stellte sich vor, dass ganz Herat an diesem Morgen darüber Bescheid wusste, wie sehr sie sich erniedrigt hatte. Sie wünschte, Mullah Faizullah wäre jetzt bei ihr, dass sie ihren Kopf auf seinen Schoß legen könnte, um sich von ihm trösten zu lassen.
Die Straße wurde holpriger; es ging bergan. Sie fuhren auf den Hügel zwischen Herat und Gul Daman.
Was sollte sie Nana sagen, fragte sich Mariam. Wie sollte sie sich entschuldigen? Würde es ihr jetzt überhaupt möglich sein, ihr unter die Augen zu treten?
Das Auto hielt an, der Fahrer half ihr nach draußen. »Ich begleite dich«, sagte er.
Sie ließ sich von ihm über den Schotterweg führen. Am Rand wucherten Geißblatt und Seidenblumen. Bienen schwirrten über schimmernden Blüten. Der Fahrer nahm sie bei der Hand und half ihr über den Fluss. Dann ließ er sie los und sprach davon, dass die für Herat berühmt-berüchtigten Einhundertzwanzigtagewinde bald zu erwarten seien und von morgens bis abends Wolken von Sand aufwühlen würden. Plötzlich blieb er vor ihr stehen, versuchte ihre Augen mit der Hand abzudecken und drängte sie in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. »Kehr um! Nein. Sieh nicht hin. Dreh dich nicht um. Geh zurück!«
Doch er war nicht schnell genug. Mariam sah es. Ein Windstoß teilte die herabhängenden Zweige der Trauerweide wie einen Vorhang, und unter dem Baum sah Mariam den Stuhl mit der geraden Lehne, umgekippt. Von einem hohen Ast hing ein Seil herab. An dessen Ende baumelte Nana.
6
Nana wurde in einer Ecke des Friedhofs von Gul Daman beigesetzt. Mariam stand neben Bibi jo in einer Gruppe von Frauen, als Mullah Faizullah Gebete sprach und Nanas verhüllter Leichnam von Männern ins Grab gesenkt wurde.
Danach führte Jalil Mariam zur kolba, wo er im Beisein der Dorfbewohner, die sie begleitet hatten, viel Aufhebens davon machte, dass er sich um seine Tochter kümmerte. Er sammelte ein paar Sachen von ihr zusammen und verstaute sie in einem Koffer. Er setzte sich zu ihr, als sie auf ihrer Pritsche lag, und fächelte ihr Luft zu. Er streichelte ihr die Stirn und fragte mit kummervoller Miene, ob sie irgendetwas brauche, irgendetwas — so sagte er es, zweimal.
»Ich will, dass Mullah Faizullah bei mir ist«, antwortete Mariam.
»Natürlich. Er ist draußen. Ich hole ihn für dich.«
Es war, als Mullah Faizullahs hagere, krumme Gestalt in der Tür erschien, dass Mariam zum ersten Mal an diesem Tag in Tränen ausbrach.
»Oh, Mariam jo.«
Er setzte sich zu ihr und nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Nur zu, weine ruhig, Mariam jo. Dafür musst du dich nicht schämen. Aber denk daran, mein Mädchen, was im Koran geschrieben steht: Segensreich ist Der, in Dessen Hand die Herrschaft ruht, Der über alle Dinge Macht hat, Der Tod und Leben geschaffen hat, damit Er dich prüfe. Der Koran spricht die Wahrheit, mein Mädchen. Gott hat seine Gründe, für jede Prüfung und jeden Kummer, die er uns auflastet.«
Doch Mariam fand keinen Trost in Gottes Worten. Nicht an diesem Tag. Sie hörte immer nur Nana sagen: Ich sterbe, wenn du gehst.
Ich sterbe, wenn du gehst. Sie konnte nur noch weinen und weinen und ihre Tränen auf die papierdünne und altersfleckige Haut der Hände von Mullah Faizullah fallen lassen.
Kurz vor seinem Haus legte ihr Jalil, der neben ihr auf der Rückbank saß, einen Arm um die Schulter.
»Du kannst bei mir wohnen, Mariam jo«, sagte er. »Ich habe bereits ein Zimmer für dich herrichten lassen. Im Obergeschoss. Es wird dir gefallen, glaube ich. Von dort hast du einen schönen Blick auf den Garten.«
Zum ersten Mal hörte Mariam ihn mit Nanas Ohren. Klar und deutlich hörte sie jetzt die Unaufrichtigkeit heraus, die sich hinter seinen hohlen, falschen Versprechungen verbarg. Sie brachte es nicht über sich, ihm in die Augen zu schauen.
Das Auto hielt vor Jalils Haus an; der Fahrer öffnete ihnen die Tür und trug Mariams Koffer. Die Hand um ihre Schulter gelegt, führte Jalil sie durch dieselbe Außenpforte, neben der Mariam vor zwei Tagen auf ihn gewartet und übernachtet hatte. Noch vor zwei Tagen hatte sich Mariam nichts sehnlicher gewünscht, als an Jalils Seite durch diesen Garten zu schlendern. Seitdem war für sie ein Lebensabschnitt vergangen. Wie konnte nur so schnell alles anders werden?, fragte sie sich. Mit gesenktem Blick ließ sie sich auf grauen Steinplatten zum Haus führen. Sie war sich der vielen Leute bewusst, die tuschelnd am Rand standen und zurücktraten, als sie an ihnen vorbeikam.