Sie hört auch Mami und erinnert sich an ihre Antwort auf Babis Vorschlag, Afghanistan zu verlassen. »Ich will den Tag erleben, an dem sich der Traum meiner Söhne verwirklicht. Ich möchte dabei sein, wenn das geschieht, damit meine Söhne durch mich, mit meinen Augen sehen, dass Afghanistan endlich befreit ist.« Nicht zuletzt darum möchte Laila nach Kabul zurückkehren: um Mami und Babi durch ihre eigenen Augen zu zeigen, welche Veränderungen sich zugetragen haben.
Was sie aber regelrecht zwingt, ist Mariams Andenken. Ist sie dafür gestorben?, fragt sich Laila. Hat sie sich geopfert, damit sie, Laila, als Dienstmädchen in einem fremden Land arbeitet? Vielleicht wäre ihr das nicht so wichtig; es ging ihr ja vor allem um ihre, Lailas und der Kinder, Sicherheit. Aber für Laila ist es wichtig. Mit einem Mal ist es ihr sehr wichtig.
»Ich möchte zurück«, sagt sie.
Tarik richtet sich auf und schaut sie an.
Laila ist wieder einmal beeindruckt von seiner Schönheit, der perfekten Wölbung seiner Stirn, den schlanken, muskulösen Armen, seinen nachdenklichen, intelligenten Augen. Es ist ein Jahr vergangen, doch noch immer gibt es Momente wie diesen, wenn Laila kaum fassen kann, dass sie sich wiedergefunden haben, dass sie tatsächlich zusammen sind, als Mann und Frau.
»Zurück? Nach Kabul?«, fragt er.
»Nur, wenn du es auch willst.«
»Bist du hier denn unglücklich? Ich dachte, du wärst zufrieden. Die Kinder sind es jedenfalls.«
Laila richtet sich auf. Tarik rückt zur Seite, um ihr Platz zu machen.
»Ich bin glücklich«, erwidert Laila. »Natürlich bin ich das. Aber… Was wird werden, Tarik? Wie lange sollen wir bleiben? Wir sind hier nicht zu Hause. Unser Zuhause ist Kabul, und da passiert zurzeit jede Menge. Viel Gutes. Ich möchte daran teilhaben. Ich möchte etwas tun. Einen Beitrag leisten. Verstehst du?«
Tarik nickt bedächtig. »Das ist also dein Wunsch. Bist du dir auch sicher?«
»Ja, ich bin mir sicher. Und es ist mehr als ein Wunsch.
Ich habe das Gefühl, zurückzumüssen. Es erscheint mir nicht richtig, hierzubleiben.«
Tarik betrachtet seine Hände und sieht ihr dann wieder in die Augen.
»Aber nur, wirklich nur, wenn du es auch willst«, betont Laila.
Tarik lächelt. Die Falte zwischen seinen Brauen verschwindet, und für einen kurzen Moment ist er wieder ganz der Alte, so wie früher, als er noch nicht von Kopfschmerzen geplagt wurde und bemerkenswert fand, dass in Sibirien der aus der Nase tropfende Schnodder noch in der Luft zu Eis gefriert. Vielleicht ist es nur Einbildung, aber Laila meint, dass sie in letzter Zeit diesen Tarik von früher wieder häufiger zu sehen bekommt.
»Ich?«, sagt er. »Ich würde dir bis ans Ende der Welt folgen, Laila.«
Sie zieht ihn an sich und küsst ihn auf den Mund. Es kommt ihr so vor, als hätte sie ihn nie inniger geliebt als in diesem Moment. »Danke«, flüstert sie und lehnt ihren Kopf an seine Stirn.
»Lass uns nach Hause gehen.«
»Aber zuerst möchte ich nach Herat«, sagt sie.
»Herat?«
Sie erklärt ihm, warum.
Den Kindern muss Mut zugesprochen werden, jedem auf seine Weise. Aziza reagiert verstört auf die Pläne ihrer Eltern. Sie leidet immer noch unter Albträumen und hat sich in der vergangenen Woche, als bei einer Hochzeitsfeier Böllerschüsse abgefeuert wurden, fast zu Tode erschrocken. Laila muss ihr versichern, dass die Kämpfe in Kabul eingestellt, die Taliban fort sind und sie auch nicht wieder ins Waisenhaus zurückmuss. »Wir wohnen zusammen. Dein Vater, ich, Zalmai und du, Aziza. Wir werden uns nie trennen, niemals. Das verspreche ich dir.« Sie lächelt. »Es sei denn, du willst dich irgendwann einmal selbständig machen, wenn du dich in einen jungen Mann verliebst und ihn heiraten möchtest.«
An dem Tag, als sie Murree verlassen, ist Zalmai untröstlich. Er schlingt die Arme um Alyonas Hals und will nicht von ihr ablassen.
»Er lässt sich nicht losreißen, Mami«, sagt Aziza.
»Zalmai. Wir können die Ziege nicht mit in den Bus nehmen«, erklärt Laila zum wiederholten Mal.
Erst als Tarik vor ihm niederkniet und ihm verspricht, dass sie sich in Kabul eine Ziege wie Alyona anschaffen werden, gibt Zalmai widerwillig nach.
Beim Abschied von Sajid fließen Tränen. Er wünscht gutes Geleit und hält ihnen an der Türschwelle einen Koran entgegen, den Tarik, Laila und die Kinder dreimal küssen, bevor Sajid ihn über ihre Köpfe hebt und sie darunter hindurch nach draußen gehen. Sajid hilft Tarik dabei, die beiden Koffer ins Auto zu schaffen. Er selbst chauffiert sie zur Haltestelle und winkt ihnen nach, als der Bus abfährt.
Als sich Laila im Sitz umdreht und Sajid im Ausschnitt der Heckscheibe verschwinden sieht, kommen ihr Zweifel. Sie fragt sich, ob es nicht doch töricht ist, Murree, diesen sicheren Ort, zu verlassen und dahin zurückzukehren, wo sich der Rauch der Bomben gerade erst legt?
Doch dann tauchen aus den dunklen Windungen ihrer Erinnerung zwei Gedichtzeilen auf, Babis Abschiedsode an Kabuclass="underline"
Nicht zu zählen sind die Monde, die auf ihren Dächern schimmern,
noch die tausend strahlenden Sonnen, die verborgen hinter Mauern stecken.
Laila lehnt sich im Sitz zurück und zwinkert Tränen aus den Augen. Kabul wartet. Es braucht Hilfe. Nach Hause zurückzukehren ist richtig.
Aber zuerst muss an anderer Stelle Abschied genommen werden.
Die Kriege in Afghanistan haben die Straßen zwischen Kabul, Herat und Kandahar über weite Strecken verwüstet. Der beste Weg nach Herat führt heute über Mashad im Iran, wo Laila und ihre Familie die Nacht in einem Hotel verbringen. Am nächsten Morgen besteigen sie einen anderen Bus.
Mashad ist eine dicht bevölkerte, geschäftige Stadt. Vom Busfenster aus betrachtet Laila die Parks, Moscheen und Restaurants. Als sie am Heiligen Schrein von Imam Reza, dem achten Schia-Imam, vorbeikommen, reckt sie den Hals, um einen besseren Blick auf die glänzenden Fliesen, die Minarette und die prachtvolle goldene Kuppel zu erhaschen, die alle sorgfältig und liebevoll instand gehalten werden. Laila denkt an die Buddhas ihres Landes, die jetzt zu Staub zerfallen sind und vom Wind über das Tal von Bamiyan verstreut werden.
Fast zehn Stunden lang folgt der Bus der iranischafghanischen Grenze. Die Landschaft ist wüst und leer wie fast überall in Afghanistan. Bevor sie bei Herat die Grenze passieren, kommen sie an einem afghanischen Flüchtlingslager vorbei, einem Meer aus gelbem Staub, schwarzen Zelten und windschiefen Wellblechhütten. Laila greift nach Tariks Hand.
In Herat sind die meisten Straßen asphaltiert und von duftenden Kiefern gesäumt. Öffentliche Parks, neu gebaute und noch nicht ganz fertig gestellte Bibliotheken, gepflegte Höfe und frisch gestrichene Gebäude bilden eine ansprechende Kulisse. Die Verkehrsampeln funktionieren, und auf die Stromversorgung ist Verlass, was Laila am meisten überrascht. Sie hat davon gehört, dass Herats feudaler Kriegsherr Ismail Khan den Wiederaufbau der Stadt mit beträchtlichen Summen aus den Zolleinnahmen fördert, die er an der afghanisch-iranischen Grenze eintreibt, Geldern, von denen es in Kabul heißt, dass sie nicht ihm, sondern der Zentralregierung zustehen. Der Taxifahrer, der sie zum Hotel Muwaffaq bringt, spricht Ismail Khans Namen mit Hochachtung und Ehrfurcht aus.
Die beiden Nächte, die sie im Muwaffaq verbringen, kosten sie fast ein Fünftel ihres Ersparten, doch die Fahrt von Mashad war lang und ermüdend; die Kinder sind erschöpft. Der ältliche Portier, der ihnen an der Rezeption den Zimmerschlüssel überreicht, erklärt, dass das Muwaffaq bei internationalen Journalisten und NGO-Helfern sehr beliebt sei.