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Laila nimmt die Dose entgegen und versucht, sie zu öffnen, doch der Deckel ist verschlossen.

»Was ist da drin?«, fragt sie.

Hamza reicht ihr einen Schlüssel. »Wir haben nie nachgeschaut. Ich vermute, es ist Gottes Wille, dass Jalils Hinterlassenschaft für Mariam nun an Sie übergeht.«

Tarik und die Kinder sind noch unterwegs, als Laila ins Hotel zurückkommt.

Sie setzt sich auf das Bett und legt die Dose in den Schoß. Sie zu öffnen und Jalils Geheimnis zu lüften widerstrebt ihr, doch die Neugier setzt sich durch. Sie steckt den Schlüssel ins Schloss. Es klemmt ein wenig, springt aber schließlich auf.

In der Dose befinden sich ein Brief, ein Beutel aus Sackleinen und eine Videokassette.

Mit der Kassette geht Laila hinunter zur Rezeption, wo ihr der ältliche Portier, der sie am Vortag in Empfang genommen hat, mitteilt, dass es im Hotel nur einen Rekorder gebe, in der größten Suite, die zurzeit jedoch nicht belegt sei. Der Portier erklärt sich bereit, sie hinzuführen. Er lässt sich von einem jungen, Anzug tragenden Mann mit Schnauzbart vertreten, der ein Funktelefon am Ohr hält.

Der Portier führt Laila in den zweiten Stock und durch einen langen Flur an eine Tür. Er schließt auf und lässt sie eintreten. Laila sieht den Fernseher in der Ecke stehen. Für alles andere hat sie keinen Blick.

Sie schaltet Fernseher und Rekorder ein, legt die Kassette ein und drückt auf Wiedergabe. Der Bildschirm bleibt für eine Weile schwarz, und Laila fragt sich schon, warum Jalil seiner Tochter ein unbespieltes Band hinterlassen hat. Dann aber ist Musik zu hören; auf der Mattscheibe erscheinen Bilder.

Laila legt die Stirn in Falten. Nach einer oder zwei Minuten hält sie das Band an, lässt es schnell vorlaufen und drückt erneut auf Wiedergabe. Es ist immer noch derselbe Film.

Der alte Mann schaut sie fragend an.

Zu sehen ist Walt Disneys Pinocchio. Laila versteht nicht.

Kurz nach sechs kehrt Tarik mit den Kindern ins Hotel zurück. Aziza läuft auf Laila zu und zeigt ihr die Ohrringe, die Tarik ihr gekauft hat: emaillierte Schmetterlinge in silberner Fassung. Zalmai hält einen Delfin in den Händen, der quietscht, wenn man ihm aufs Maul drückt.

»Wie geht’s dir?«, fragt Tarik und legt ihr einen Arm um die Schulter.

»Bestens«, antwortet Laila. »Ich berichte dir später.«

Sie gehen in ein nahe gelegenes Kebab-Haus, um zu Abend zu essen. Der kleine Gastraum ist verraucht und laut; die Plastikdecken auf den Tischen sind klebrig. Aber das Lammfleisch ist zart und saftig, das Brot frisch gebacken. Nach dem Essen bummeln sie noch eine Weile durch die Straßen. Tarik spendiert den Kindern Rosenwassereis, das er einem Straßenhändler abkauft. Sie machen es sich auf einer Bank bequem; die Berge im Rücken ragen dunkel in den scharlachroten Abendhimmel auf. Die warme Luft ist von Zedernduft erfüllt.

Nachdem sie sich das Video angesehen hatte, war Laila auf ihr Zimmer zurückgegangen, wo sie den Briefumschlag öffnete. Darin steckten mehrere Blätter linierten gelben Papiers, mit blauer Tinte von Hand beschrieben.

Darauf stand zu lesen:

13. Mai 1987

Meine liebe Mariam, ich hoffe, der Brief erreicht Dich bei guter Gesundheit.

Wie Du weißt, bin ich vor einem Monat in Kabul gewesen, in der Hoffnung, Dich sprechen zu können. Aber Du wolltest mich nicht sehen. Ich war enttäuscht, kann Dir aber keinen Vorwurf machen. An Deiner Stelle hätte ich mich wahrscheinlich ähnlich verhalten. Ich habe das Privileg Deiner Gunst vor langer Zeit verloren, und dafür trage ich die Schuld allein. Aber wenn Du diese Zeilen liest, hast Du auch gelesen, was in dem Brief stand, den ich Dir vor die Haustür gelegt habe. Du hast ihn gelesen und Mullah Faizullah aufgesucht, worum ich Dich gebeten habe. Dafür bin ich Dir dankbar, Mariam jo. Ich danke Dir, dass Du mir die Möglichkeit gibst, noch ein paar Worte an Dich zu richten.

Wo soll ich anfangen?

Seit unserer letzten Begegnung habe ich, Dein Vater, viel Kummer erfahren. Deine Stiefmutter Afsoon wurde am ersten Tag des Aufstands von 1970 getötet. Am selben Tag starb auch Deine Schwester Niloufar, tödlich verletzt von einem Querschläger. Ich sehe sie noch vor mir, meine kleine Niloufar, wie sie auf den Händen stand, um Gäste zu beeindrucken. Dein Bruder Farhad schloss sich 1980 dem Dschihad an. Zwei Jahre später wurde er vor Helmand von den Sowjets erschossen. Seinen Leichnam habe ich nie zu Gesicht bekommen. Ich weiß nicht, ob Du, Mariam jo, Kinder hast. Wenn ja, bete ich zu Gott, dass er sie beschützen und Dir den Kummer ersparen möge, der mich getroffen hat. Ich träume immerzu von ihnen, von meinen lieben Kindern.

Auch von Dir, Mariam jo, träume ich. Du fehlst mir. Ich vermisse den Klang Deiner Stimme, Dein Lachen. Mit Wehmut denke ich an die Zeit zurück, in der ich Dir aus Zeitungen vorgelesen und mit Dir am Fluss geangelt habe. Weißt Du noch, wie oft wir zusammen fischen waren? Du warst eine gute Tochter, Mariam jo, und es erfüllt mich mit Scham und Bedauern, dass ich Dir kein guter Vater gewesen bin. Ja, ich bedauere zutiefst, dass ich Dich an dem Tag, als Du nach Herat gekommen bist, nicht willkommen geheißen und Dir nicht die Tür geöffnet habe. Ich bedauere, Dich nach all den Jahren unseres Zusammenseins nicht in meine Familie aufgenommen zu haben. Und was waren das für Gründe, die mich davon abhielten? Die Sorge, das Gesicht und den vermeintlich guten Ruf zu verlieren? Ach, wie wenig bedeuten mir solche Gründe jetzt, nach all den Verlusten, nach all den schrecklichen Dingen, die dieser verfluchte Krieg mit sich gebracht hat. Aber zur Reue ist es natürlich zu spät. Vielleicht ist es eine gerechte Strafe für herzlose Menschen, dass sie erst dann zur Einsicht gelangen, wenn sie nichts wiedergutmachen können. Mir bleibt nur zu sagen, dass Du eine gute Tochter warst, Mariam jo, und ich kann Dich nur noch um Verzeihung bitten. Vergib mir, Mariam jo. Vergib mir. Vergib mir. Vergib mir.

Ich bin nicht mehr der vermögende Mann, als den Du mich kennst. Die Kommunisten haben einen Großteil meiner Ländereien und alle Geschäfte beschlagnahmt. Doch darüber zu klagen wäre kleinlich, denn Gott hat mich aus unerfindlichen Gründen trotz allem über die Maßen beschenkt. Nach meiner Rückkehr aus Kabul ist es mir gelungen, den mir verbliebenen Landbesitz zu verkaufen. Ich lasse Dir mit diesem Brief Deinen Anteil an meinem Nachlass zukommen. Wie Du siehst, ist es beileibe kein Vermögen, aber immerhin doch etwas. (Dir wird auch aufgefallen sein, dass ich mir die Freiheit genommen habe, das Geld in Dollars zu wechseln. Ich glaube, es ist besser so. Gott allein weiß, was aus unserer kranken Währung werden wird.)

Du wirst hoffentlich nicht denken, dass ich mir Deine Vergebung zu erkaufen versuche. Allein der Gedanke liegt mir fern, denn ich weiß sehr wohl, dass sie nicht zum Verkauf steht. Ich gebe Dir nur, wenn auch verspätet, das, was Dir von Rechts wegen immer schon zustand. Zu Lebzeiten war ich Dir kein treusorgender Vater. Vielleicht kann ich’s im Tod sein.

Ja, ich sehe nun meinen Tod vor Augen, will Dich aber nicht mit Einzelheiten belasten. Herzschwäche, sagen die Ärzte — ein, wie mir scheint, passender Abgang für einen schwachen Mann.

Mariam jo, ich wage zu hoffen, dass Du mir, wenn Du diesen Brief gelesen hast, wohlgesinnter bist als ich es Dir gegenüber war, dass Du Dir vielleicht ein Herz fasst und mich aufsuchst.

Dass Du noch einmal an meine Tür klopfst und mir Gelegenheit gibst, Dich willkommen zu heißen und in meine Arme zu schließen, was ich schon vor all den Jahren hätte tun sollen. Ich weiß, diese Hoffnung ist kaum begründet und so schwach wie mein Herz. Aber ich werde warten und hoffen, dass Du anklopfst.

Möge Dir Gott ein langes, gesegnetes Leben und viele gesunde Kinder schenken. Ich wünsche Dir Glück, Frieden und die Anerkennung, die ich Dir vorenthalten habe. Leb wohl. Ich weiß Dich in Gottes liebender Hand.