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Möge Dir Gott ein langes, gesegnetes Leben und viele gesunde Kinder schenken. Ich wünsche Dir Glück, Frieden und die Anerkennung, die ich Dir vorenthalten habe. Leb wohl. Ich weiß Dich in Gottes liebender Hand.

Dein nichtswürdiger Vater
Jalil

Als die Kinder zu Bett gegangen sind, berichtet Laila Tarik von dem Brief. Sie zeigt ihm das Geld in dem sackleinenen Beutel. Als sie zu weinen anfängt, gibt er ihr einen Kuss und schließt sie in seine Arme.

51

April 2003

Die Dürrezeit ist endlich ausgestanden. Im vergangenen Winter hat es viel Schnee gegeben, und jetzt regnet es seit Tagen. Der Kabul führt wieder Wasser. Seine Fluten haben Titanic City weggespült.

Die Straßen sind voller Schlamm. Fußgänger versinken darin bis zu den Knöcheln. Autos bleiben stecken. Mit Apfelsäcken beladene Esel schleppen sich voran und spritzen mit den Hufen Matsch auf. Doch keiner beklagt sich. Niemand trauert um Titanic City. »Kabul soll wieder grün werden«, sagen die Leute.

Gestern hat Laila ihren Kindern dabei zugesehen, wie sie bei strömendem Regen und unter einem bleigrauen Himmel im Hof umhertollten und von einer Pfütze in die andere hüpften. Sie stand am Küchenfenster des kleinen gemieteten Hauses in Deh-Mazang. Im Hof wachsen ein Apfelbaum und mehrere Weinrosensträucher. Tarik hat die Mauern verputzt, den Kindern Rutsche und Schaukel gebaut und für Zalmais neue Ziege ein kleines Gehege eingerichtet. Dem Kleinen rinnt der Regen vom kahlen Kopf — er hat darum gebeten, geschoren zu werden wie Tarik, dem jetzt die Aufgabe zufällt, die Babalu-Gebete mit ihm zu sprechen. Azizas langes Haar ist klatschnass; wenn sie den Kopf herumdreht, spritzt das Wasser.

Zalmai wird bald sechs. Aziza ist zehn. Vergangene Woche waren sie zur Feier ihres Geburtstags im Cinema Park, wo endlich der Spielfilm Titanic öffentlich gezeigt wurde.

»Beeilung, Kinder, wir kommen noch zu spät«, ruft Laila und packt die Mittagsbrote in eine Papiertüte.

Es ist acht Uhr. Schon um fünf hat Aziza ihre Mutter geweckt, um mit ihr den Morgen-namaz zu sprechen. Über die Gebete versucht Aziza, wie Laila weiß, an Mariam festzuhalten; sie ist ihr dann nahe. Doch irgendwann wird Mariam aus dem Garten ihrer Erinnerung verschwinden wie ein Kraut, das bei seinen Wurzeln ins Erdreich zurückgezogen wird.

Nach dem namaz ist Laila wieder ins Bett gestiegen. Sie schlief, als Tarik das Haus verließ, und erinnert sich nur vage, dass er ihr einen Kuss auf die Wange gegeben hat. Tarik arbeitet jetzt für eine französische Hilfsorganisation, die Landminenopfern und Kriegsversehrten Prothesen anpasst.

Aziza und Zalmai kommen zur Küche hereingestürmt.

»Habt ihr eure Hefte eingepackt? Die Stifte? Die Schulbücher?«

»Ist alles da drin«, antwortet Aziza und hebt ihren Tornister. Ihr Stottern hat merklich nachgelassen.

»Dann los jetzt.«

Laila verlässt mit den Kindern das Haus und schließt hinter sich ab. Heute regnet es nicht, aber die Luft ist kühl. Am blauen Himmel zeigt sich kein einziges Wölkchen. Hand in Hand marschieren die drei zur Bushaltestelle. Auf den Straßen herrscht bereits viel Verkehr. Es wimmelt nur so von Rikschas, Taxis, UN-Transportern, Bussen und Jeeps der ISAF. Verschlafen aussehende Geschäftsleute ziehen die Rollläden ihrer Schaufenster hoch. Straßenhändler hocken hinter Bergen von Kaugummi und Zigarettenstangen. An den Straßenecken stehen schon die Kriegswitwen, die Passanten um Geld bitten.

Die Stadt hat sich, wie Laila findet, sehr verändert. Überall werden Bäume und Sträucher gepflanzt, die Fassaden alter Häuser gestrichen und Ziegelsteine für Neubauten zusammengetragen. Es entstehen auch neue Abflusskanäle und Brunnen. Vor den Fenstern sind Pflanzen zu sehen, eingetopft in leere Granatenhülsen. Bei den Kabuli heißen sie Raketenblumen. Vor kurzem hat Tarik Laila und die Kinder in den Garten von Babur geführt, der neu angelegt worden ist. Zum ersten Mal seit Jahren hört Laila wieder Straßenmusiker, die auf ihren rubabs und tablas, dootars, Harmonien und tambouras Lieder von Ahmad Zahir spielen.

Laila wünschte sich, ihre Eltern hätten diese Veränderungen noch miterleben können. Doch wie Jalils Brief kam auch die Reue Kabuls zu spät.

Laila und die Kinder wollen gerade die Straße überqueren, als plötzlich ein schwarzer Landcruiser mit getönten Scheiben angerast kommt, im letzten Augenblick ausweicht und im Abstand einer Armeslänge an den dreien vorbeischießt. Dunkelbraunes Regenwasser spritzt auf und besudelt ihre Kleider.

Laila reißt die Kinder auf den Gehweg zurück. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals.

Der Landcruiser hat die nächste Kreuzung erreicht, hupt zweimal und biegt auf schliddernden Reifen links ab.

Laila schnappt nach Luft. Sie hält die Kinder bei den Handgelenken gepackt.

Es macht sie krank, dass den Kriegsherren erlaubt worden ist, nach Kabul zurückzukehren, dass die Mörder ihrer Eltern wieder in stattliche Häuser mit ummauerten Gärten eingezogen sind, Regierungsämter bekleiden und mit ihren kugelsicheren Protzautos durch die von ihnen verwüstete Nachbarschaft kurven. Es macht sie krank.

Doch Laila hat beschlossen, sich nicht verbittern zu lassen. Das hätte Mariam nicht gewollt. Was bringt’s? würde sie mit unschuldigem und zugleich klugem Lächeln fragen. Was hättest du davon, Laila jo? Also schluckt sie ihren Groll und macht tapfer weiter — um Tarik, der Kinder und um ihrer selbst willen. Und für Mariam, die ihr nach wie vor im Traum erscheint und immer nah ist. Laila macht weiter; etwas anderes als Engagement und Hoffnung, so weiß sie, bleibt ihr nicht übrig.

Zaman steht mit leicht gebeugten Knien an der Freiwurflinie und lässt den Basketball aufprallen. Er trainiert eine Gruppe von Jungen, die alle dasselbe Trikot tragen und im Halbkreis auf dem Hof am Boden hocken. Als er Laila sieht, klemmt er den Ball unter den Arm und winkt ihr zu. Er sagt etwas zu den Jungen, die daraufhin ebenfalls winken und rufen: »Salaam, moalim sahib

Laila winkt zurück.

Auf dem Spielplatz des Waisenhauses stehen jetzt entlang der Mauer im Osten ein paar junge Apfelbäume. Laila will auch welche vor die Südmauer pflanzen, sobald sie wieder aufgebaut ist. Neu sind auch die Schaukeln und das Klettergerüst.

Laila geht durch die Fliegengittertür ins Haus.

Das Waisenhaus ist frisch gestrichen worden. Tarik und Zaman haben das Dach abgedichtet, die Wände neu verputzt, Fenster eingesetzt und die Zimmer, in denen die Kinder schlafen und spielen, mit Teppichen ausgelegt. Laila hat im vergangenen Winter zusätzliche Betten beschafft und gusseiserne Öfen einbauen lassen.

Anis, eine der Kabuler Tageszeitungen, hatte, einen Monat bevor mit den Arbeiten begonnen wurde, von der geplanten Renovierung des Waisenhauses berichtet. Dazu erschien ein Foto von Zaman, Tarik, Laila, einer Pflegerin und den Kindern, die hinter den Erwachsenen Aufstellung genommen hatten. Als Laila den Artikel zu Gesicht bekam, fühlte sie sich an ihre Freundinnen Giti und Hasina erinnert, insbesondere an Hasinas Worte: »Wenn wir, Giti und ich, zwanzig sind, hat jede von uns schon vier oder fünf Kinder geworfen. Und auf dich, Laila, werden wir zwei Strohköpfe einmal richtig stolz sein. Aus dir wird noch was. Ich bin mir sicher, irgendwann sehe ich eine Zeitung mit deinem Foto auf der Titelseite.« Hasina hat mit ihrer Prognose recht behalten, auch wenn es nicht die Titelseite war, auf der das Foto gezeigt wurde.

Laila folgt demselben Korridor, durch den sie vor zwei Jahren, von Mariam begleitet, gegangen war, um Aziza dem Heimleiter vorzustellen. Laila erinnert sich, wie sie sich von ihrem Kind, das sich krampfhaft an ihr festhielt, losreißen musste und wie sie dann tränenblind durch diesen Flur davongelaufen war, Mariams Rufe und Azizas gellende Schreie im Rücken. An den Wänden hängen jetzt Poster, auf denen Dinosaurier, Comicfiguren und die Buddhas von Bamiyan abgebildet sind. Es sind auch etliche Kunstwerke der Waisenkinder zu sehen, Zeichnungen von Panzern, die Lehmhütten überrollen, und Soldaten mit Sturmfeuergewehren, von Flüchtlingslagern und Kriegsszenen.