Laila biegt um eine Ecke und sieht die Kinder vor dem Klassenzimmer stehen. Sie tragen Scheitelkappen auf den kahl geschorenen Köpfen und Schals um den Hals. Ihre kleinen Körper sind mager, aber quicklebendig und voller Anmut.
Als die Kinder Laila erblicken, kommen sie mit schrillen Willkommensrufen auf sie zugerannt. Laila wird umschwärmt. Hände strecken sich ihr entgegen, greifen nach ihr, betätscheln sie und zerren an ihren Kleidern. Alle buhlen um ihre Aufmerksamkeit. Manche nennen sie Mutter. Laila korrigiert sie nicht.
Es dauert eine Weile, bis die Kinder zur Ruhe gebracht sind und, in Reih und Glied aufgestellt, das Klassenzimmer betreten.
Tarik und Zaman haben die Wand zwischen zwei kleineren Räumen eingerissen und so für ein ausreichend großes Klassenzimmer gesorgt. Der Boden ist noch voller Risse, und es fehlen mehrere Fliesen, doch Tarik hat versprochen, die schadhaften Stellen auszubessern und das Zimmer mit einem Teppich auszulegen. Bis dahin liegt eine Plane auf dem Boden.
Über der Tür hängt eine rechteckige Holztafel, die Zaman abgeschliffen und weiß lackiert hat. Darauf stehen, mit Pinselstrichen aufgemalt, vier Gedichtzeilen, die, wie Laila weiß, Zamans Antwort auf all jene verärgerten Stimmen sind, die beklagen, dass die versprochene Finanzhilfe für Afghanistan noch nicht eingetroffen sei, der Wiederaufbau nicht schnell genug vorangehe und wieder Korruption um sich greife, dass sich die Taliban neu formierten und auf Rache sännen und dass die Welt einmal mehr Afghanistan vergessen werde. Die Zeilen stammen aus seinem Lieblingsgedicht von Hafis:
Laila geht unter dieser Tafel hinweg ins Klassenzimmer. Die Kinder nehmen ihre Plätze ein, kramen ihre Hefte hervor und plappern.
Aziza schwätzt mit einem Mädchen am Nebentisch. Ein Papierflugzeug segelt durch den Raum. Jemand wirft es zurück.
»Schlagt eure Farsi-Bücher auf, Kinder«, sagt Laila und legt ihre eigenen Bücher auf das Pult.
Während die Seiten rascheln, tritt Laila an das vorhanglose Fenster. Im Hof sieht sie die Jungen Freiwürfe üben. Im Hintergrund steigt die Morgensonne über den Berggrat. Ihr Licht glitzert auf dem Metallgestänge des Basketballkorbs, den Kettengliedern der Schaukel, der Trillerpfeife, die Zaman an einer Schnur um den Hals hängt, und auf seiner neuen, blitzblanken Brille. Laila legt ihre Hände an die warme Scheibe. Sie schließt die Augen und wendet das Gesicht der Sonne zu.
Bei ihrer Rückkehr nach Kabul war Laila untröstlich, weil sie nicht in Erfahrung bringen konnte, wo Mariam begraben liegt. Sie hätte ihr Grab allzu gern aufgesucht und mit Blumen geschmückt. Jetzt hat sich der Kummer gelegt. Für sie ist Mariam ohnehin immer in der Nähe. Sie ist hier, zwischen den frisch gestrichenen Wänden, in den neu gepflanzten Bäumen, in den Wolldecken, die die Kinder wärmen, in diesen Kissen und Büchern und Stiften. Im Lachen der Kinder. In den Versen, die Aziza aufsagt, und in den Gebeten, die sie, nach Westen gewandt, vor sich hin murmelt. Vor allem aber ist Mariam in ihrem eigenen Herzen, wo sie so hell wie tausend Sonnen leuchtet.
Laila bemerkt, dass jemand nach ihr gerufen hat. Sie dreht sich herum und richtet unwillkürlich das gesunde Ohr nach vorn. Es ist Aziza.
»Mami? Geht’s dir nicht gut?«
Es ist still geworden. Die Kinder beobachten sie.
Laila will gerade antworten, hält aber plötzlich die Luft an. Sie greift sich an den Unterleib, durch den soeben eine warme Welle gefahren ist. Sie wartet.
»Mami?«
»Doch, mein Liebling.« Laila lächelt. »Mir geht es gut. Sehr sogar.«
Als sie auf ihr Pult zugeht, denkt Laila an das Namensspiel, mit dem sich die Familie auch gestern wieder am Esstisch die Zeit vertrieben hat. Seit Tarik und die Kinder Bescheid wissen, wird allabendlich gestritten, und jeder versucht, seinen Vorschlag durchzusetzen. Tarik favorisiert Mohammad. Zalmai, der kürzlich Superman auf Video gesehen hat, kann nicht verstehen, warum nicht auch ein afghanischer Junge Clark genannt werden kann. Aziza macht sich für den Namen Aman stark. Laila fände Omar schön.
In dem Spiel geht es ausschließlich um Jungennamen. Denn falls es ein Mädchen wird, steht für Laila der Name längst fest.
Nachwort
Seit fast drei Jahrzehnten dauert das Elend afghanischer Flüchtlinge an. Krieg, Hunger, Chaos und Unterdrückung zwingen Millionen von Menschen — wie Tarik und seine Familie in dieser Geschichte —, ihre Häuser zu verlassen, aus Afghanistan zu fliehen und in den Nachbarländern Pakistan und Iran Zuflucht zu suchen. Auf dem Höhepunkt des Exodus lebten nicht weniger als acht Millionen Afghanen als Flüchtlinge im Ausland. Heute halten sich noch mehr als zwei Millionen afghanische Flüchtlinge in Pakistan auf.
Seit einigen Jahren ist es mir vergönnt, als ein Gesandter des UNHCR, einer der weltweit führenden humanitären Organisationen, tätig zu sein. Der UNHCR schützt mit seinem Mandat die fundamentalen Menschenrechte von Flüchtlingen, schafft Abhilfe in Notfällen und unterstützt Flüchtlinge dabei, ihr Leben in Sicherheit wiederaufzunehmen. Der UNHCR setzt sich für mehr als zwanzig Millionen vertriebene Menschen auf der ganzen Welt ein, nicht nur in Afghanistan, sondern auch in Ländern wie Kolumbien, Burundi, im Kongo, Tschad oder in der sudanesischen Darfur-Region. Im Auftrag des UNHCR Flüchtlingen helfen zu können ist für mich eine der lohnendsten und bedeutsamsten Erfahrungen meines Lebens.
Wer selbst helfen oder einfach nur mehr über die Arbeit des UNHCR beziehungsweise über die Misere der Flüchtlinge im Allgemeinen erfahren möchte, sei verwiesen an die Internetsite www.UNrefugees.org.
Vielen Dank.
Khaled Hosseini
31. Januar 2007
Danksagung
Bevor ich mich erkenntlich zeige, hier ein paar Erläuterungen: Das Dorf Gul Daman ist ein fiktiver Ort. Allen, die sich in Herat auskennen, wird auffallen, dass ich mir bei der geografischen Beschreibung ein paar kleinere Freiheiten herausgenommen habe. Der Originaltitel des Romans ist einem Gedicht von Saeb-e-Tabrizi entlehnt, einem persischen Poeten des 17. Jahrhunderts. Wer dieses Gedicht im Original auf Farsi kennt, wird bemerken, dass die betreffende Zeile im Englischen nicht wortwörtlich übersetzt ist. Gleichwohl handelt es sich um eine allgemein anerkannte Übersetzung von Dr. Josephine Davis, die ich sehr schön finde. Ich bin ihr dafür dankbar. Danken möchte ich überdies Qayoum Sarwar, Hekmat Sadat, Elyse Hathaway, Rosemary Stasek, Lawrence Quill und Haleema Jazmin Quill für Beistand und Unterstützung.
Mein besonderer Dank gilt Baba, meinem Vater, für die Begutachtung dieses Manuskripts, seine Rückmeldungen und, wie immer, für seine Liebe und Unterstützung. Und meiner Mutter, deren selbstlose und sanfte Art in der ganzen Geschichte mitschwingt. Du bist mein Beweggrund, Mutter jo. Dank auch meinen Schwiegereltern für ihre Großzügigkeit und die vielen Freundlichkeiten. Auch allen anderen meiner wundervollen Familie bin ich zutiefst dankbar. Außerdem möchte ich meiner Agentin Elaine Koster danken, die mir immer Mut macht, darüber hinaus Jody Hotchkiss, David Grossman, Helen Heller und dem unermüdlichen Chandler Crawford. Dank schulde ich des Weiteren allen Mitarbeiterinnen von Riverhead Books, im Besonderen Susan Petersen Kennedy und Geoffrey Kioske für ihr Zutrauen in diese Geschichte. Von Herzen Dank gesagt sei auch Marilyn Ducksworth, Mih-Ho Cha, Catharine Lynch, Craig D. Burke, Leslie Schwartz, Honi Werner und Wendy Pearl. Ein besonderes Dankeschön geht an den scharfäugigen Redakteur Tony Davis, dem kein Fehler entgeht, und an meine großartige Lektorin Sarah McGrath für ihre Geduld, Voraussicht und Beratung.