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Auch im Innern des Hauses blieben ihre Augen nach unten gerichtet. Sie ging über einen dunkelbraunen Teppich mit blauen und gelben Achteckmustern, sah aus dem Augenwinkel die marmornen Sockel von Statuen, die untere Hälfte von Vasen, die Fransen farbiger Wandbehänge. Die Treppe, auf der sie Jalil nach oben folgte, war sehr breit und mit einem ähnlichen Teppich ausgelegt, der an den Unterkanten jeder Stufe festgenagelt war. Oben angekommen, führte Jalil sie durch einen langen, ebenfalls mit Teppich ausgelegten Korridor. Vor einer der Türen blieb er schließlich stehen, öffnete sie und ließ sie eintreten.

»Deine Schwestern Niloufar und Atieh spielen hier manchmal«, sagte er. »Aber meistens nutzen wir diesen Raum als Gästezimmer. Du wirst dich hier wohlfühlen, glaube ich. Hübsch, nicht wahr?«

Das Zimmer hatte ein Bett mit einer grünen, geblümten Decke aus festem Waffelmustergewebe. Die dazu passenden Vorhänge waren zurückgezogen und gaben den Blick auf den Garten frei. Neben dem Bett stand eine Kommode mit drei Schubläden, darauf eine Blumenvase. Auf den Regalborden entlang den Wänden befanden sich gerahmte Fotos von Personen, die Mariam nicht kannte. Auf einem der Borde sah Mariam eine Sammlung hölzerner Puppen, die alle gleich aussahen, aber unterschiedlich groß und entsprechend aneinandergereiht waren.

Jalil folgte ihrem Blick. »Matrjoschka-Puppen. Aus Moskau. Du kannst mit ihnen spielen. Es hätte niemand was dagegen.«

Mariam setzte sich aufs Bett.

»Hast du irgendeinen Wunsch?«, fragte Jalil.

Mariam streckte sich aus und schloss die Augen. Wenig später hörte sie ihn leise die Tür zuziehen.

Mariam blieb auf ihrem Zimmer, es sei denn, sie musste zur Toilette, die am Ende des Korridors lag. Die tätowierte junge Frau, die ihr die Außenpforte geöffnet hatte, brachte ihr die Mahlzeiten auf einem Tablett: Lammkebab, sabzi, aush-Suppe. Mariam rührte ihr Essen kaum an. Mehrmals am Tag kam Jalil, setzte sich aufs Bett und fragte, ob alles in Ordnung sei.

»Du könntest auch unten mit uns essen«, sagte er, was aber nicht besonders überzeugend klang, denn er ließ Mariam allzu bereitwillig gewähren, wenn sie sagte, dass sie lieber allein essen wolle.

Mit Blick aus dem Fenster nahm Mariam teilnahmslos zur Kenntnis, was sie all die Jahre sehnsüchtig zu sehen gehofft hatte: die alltäglichen Lebensumstände ihres Vaters. Dienstboten kamen und gingen durch die Außenpforte. Ein Gärtner beschnitt die Sträucher und wässerte die Pflanzen im Treibhaus. Elegante Limousinen fuhren auf der Straße vor. Ihnen entstiegen Männer in Anzügen, chapan und Krimmermütze, hijab-tragende Frauen und Kinder mit ordentlich gekämmten Haaren. Mariam sah, wie Jalil all diesen Fremden die Hand schüttelte und sich, die Hände auf der Brust überkreuzt, vor ihren Frauen verneigte, und wusste, dass Nana recht behalten hatte. Sie, Mariam, gehörte nicht hierher.

Aber wohin gehöre ich? Was soll ich jetzt tun?

Ich bin alles, was du auf dieser Welt hast, Mariam, und wenn ich gegangen bin, wirst du nichts haben. Rein gar nichts. Du bist ein Nichts!

Wie der Wind in den Weiden vor der kolba stürmten ihr Böen unsäglicher Niedergeschlagenheit durch den Sinn.

Am zweiten Tag in Jalils Haus suchte sie ein kleines Mädchen in ihrem Zimmer auf.

»Ich muss etwas holen«, sagte sie.

Mariam saß, die Beine überkreuzt, auf dem Bett und zog sich die Decke über den Schoß.

Das Mädchen eilte durch den Raum, öffnete die Schranktür und brachte einen grauen, würfelförmigen Karton zum Vorschein.

»Weißt du, was darin ist?«, fragte sie und öffnete den Karton. »Ein Plattenspieler. So nennt man das. Platten. Spieler. Für Schallplatten. Da ist Musik drauf, verstehst du?«

»Du bist Niloufar. Acht Jahre alt.«

Das Mädchen lächelte. Es hatte Jalils Lächeln und das gleiche Grübchen im Kinn. »Woher weißt du das?«

Mariam zuckte mit den Achseln. Sie sagte dem Mädchen nicht, dass sie einmal einen Kieselstein nach ihm benannt hatte.

»Willst du mal ein Lied hören?«

Wieder zuckte Mariam mit den Achseln.

Niloufar steckte den Stecker des Plattenspielers in die Dose und fischte eine kleine Schallplatte aus einer Tasche unter dem Kartondeckel. Sie legte die Platte auf und senkte die Nadel. Musik ertönte.

Ich nehm mein Blatt Papier und schreibe dir den süßesten Brief, du bist der Sultan meines Herzens, der Sultan meines Herzens.

»Kennst du’s?«

»Nein.«

»Es ist aus einem iranischen Film. Den hab ich im Kino meines Vaters gesehen. He, soll ich dir mal was zeigen?«

Ehe Mariam antworten konnte, hatte Niloufar die Hände auf den Boden gestützt, sich mit den Füßen abgestoßen und kopfüber aufgerichtet, so dass sie auf der Stirn zu stehen kam.

»Schaffst du das auch?«, fragte sie stolz.

»Nein.«

Niloufar ließ die Beine auf den Boden zurückfallen und zog ihr Hemd zurecht. »Ich könnte es dir beibringen«, sagte sie, indem sie eine Strähne von der geröteten Stirn wischte. »Wie lange bleibst du hier?«

»Weiß ich nicht.«

»Meine Mutter sagt, du wärst keine richtige Schwester von mir, wie du behauptest.«

»Das habe ich nie behauptet«, log Mariam.

»Sie sagt, doch. Ist aber auch egal. Ich meine, es macht mir nichts aus, wenn du das behauptest. Und ich hätte auch nichts dagegen, wenn du meine Schwester wärst.«

Mariam streckte sich auf dem Bett aus. »Ich bin müde.«

»Meine Mutter sagt, ein Dschinn hätte deine Mutter dazu gebracht, sich aufzuhängen.«

»Du kannst das jetzt ausstellen«, sagte Mariam und drehte sich zur Seite. »Die Musik, meine ich.«

Am selben Tag kam auch Bibi jo, um sie zu sehen. Draußen hatte es inzwischen zu regnen angefangen. Sie senkte ihren schweren Körper auf den Stuhl neben dem Bett und verzog das Gesicht.

»Dieser Regen ist Gift für meine Gelenke, Mariam jo. Der bringt mich noch um, das sage ich dir. Ich hoffe… Oh, komm, mein Kind. Komm zu Bibi jo. Weine nicht. Armes Ding. Ts, ts. Du armes, armes Ding.«

In dieser Nacht konnte Mariam lange nicht einschlafen. Sie lag im Bett, starrte an die Decke, lauschte den Schritten im Haus, den von den Wänden gedämpften Stimmen und den Regenschauern vorm Fenster. Kaum war sie endlich eingeschlafen, wurde sie durch lautes Rufen aufgeweckt. Stimmen, unten im Erdgeschoss, scharf und zornig. Mariam verstand kein Wort. Jemand knallte eine Tür zu.

Am nächsten Morgen kam Mullah Faizullah zu Besuch. Als Mariam ihren Vertrauten mit dem weißen Bart und dem freundlichen zahnlosen Lächeln in der Tür sah, traten ihr wieder Tränen in die Augen. Sie schwang ihre Beine über die Bettkante und eilte auf ihn zu, küsste wie immer seine Hand und bekam wie immer von ihm einen Kuss auf die Stirn. Sie rückte ihm einen Stuhl zurecht.

Er zeigte ihr den Koran, den er für sie mitgebracht hatte, und schlug ihn auf. »Ich dachte mir, es gibt eigentlich keinen Grund dafür, dass wir unseren Unterricht nicht fortsetzen sollten, oder?«

»Sie wissen doch, dass ich keinen Unterricht mehr brauche, Mullah sahib. Sie haben mir schon Vorjahren alle Suren und Ayat aus dem Koran beigebracht.«

Er lächelte und hob die Hände, als gäbe er sich geschlagen. »Dann bin ich wohl überführt. Aber ich könnte mir schlechtere Vorwände für einen Besuch bei dir vorstellen.«

»Dazu brauchen Sie keinen Vorwand. Sie nicht.«