Sie nickte. Ihr Vater versuchte nicht mehr, ihrer Mutter zu widersprechen. Jedenfalls nicht laut, wegen ihrer Zunge, die Gift versprühte. Widersprach man ihr, verlor sie manchmal die Beherrschung, hatte er einmal gesagt. Und wenn sie die Beherrschung verlor, wurde sie manchmal beleidigend und dachte so spät an Reue, daß es dem Beleidigten nichts mehr nützte. Es kam Frannie so vor, als hätte es für ihren Vater vor vielen Jahren zwei Möglichkeiten gegeben: fortgesetzte Opposition, die mit Scheidung geendet hätte, oder Kapitulation. Er hatte sich für letzteres entschieden - aber zu seinen Bedingungen. Sie fragte leise: »Bist du sicher, daß du dich da raushalten kannst?«
»Soll ich für dich Partei ergreifen?«
»Ich weiß nicht.«
»Was hast du jetzt vor?«
»Wegen Mom?«
»Nein. Wegen dir, Frannie.«
»Ich weiß nicht.«
»Ihn heiraten? Zu zweit lebt es sich so billig wie allein, heißt es jedenfalls.«
»Ich glaube, das kann ich nicht. Ich glaube, ich liebe ihn nicht mehr, wenn ich ihn überhaupt je geliebt habe.«
»Das Baby?« Seine Pfeife zog jetzt gut, und der Rauch hing süßlich in der Sommerluft. In den Vertiefungen des Gartens wuchsen Schatten, Grillen fingen an zu zirpen.
»Nein, das Baby ist nicht der Grund. Es wäre sowieso passiert. Jessie ist...« Sie verstummte und versuchte, sich darüber klarzuwerden, was genau mit Jessie nicht stimmte, was sie bei der Belastung, den der Gedanke an das Baby verursachte, übersehen konnte, bei der Belastung durch den Versuch, aus dem drohenden Schatten ihrer Mutter wegzukommen, die momentan im Kaufhaus war und Handschuhe für die Hochzeit von Frans Jugendfreundin kaufte. Was jetzt begraben werden konnte, aber trotzdem unruhig warten würde - sechs Monate, sechzehn oder sechsundzwanzig -, um dann schließlich doch aus dem Grab aufzuerstehen und ihnen beiden das Leben schwerzumachen. Schnell gefreit hat lang gereut. Ein Lieblingssprichwort ihrer Mutter.
»Er ist schwach«, sagte sie. »Besser kann ich es nicht erklären.«
»Du bist nicht recht davon überzeugt, daß er der Richtige für dich ist, oder, Frannie?«
»Stimmt«, sagte sie und dachte, daß ihr Vater der Wurzel des Übels eben nähergekommen war als sie selbst. Sie traute Jessie nicht, der aus einer reichen Familie kam und blaue Arbeiterhemden trug.
»Jessie meint es gut. Er will alles richtig machen; wirklich. Aber... wir waren vor zwei Semestern bei einer Dichterlesung. Ein Mann namens Ted Enslin hat sie gehalten. Der Hörsaal war brechend voll. Alle haben sehr ernst zugehört... so aufmerksam... damit ihnen kein einziges Wort entging. Und ich... du kennst mich ja...«
Er legte ihr tröstend einen Arm um die Schultern und sagte: »Frannie bekam das Kichern.«
»Ja. Stimmt. Du kennst mich wirklich gut.«
»Ein bißchen«, sagte er.
»Es - ich meine, das Kichern - kam wie aus dem Nichts. Ich mußte immerzu denken: >Der struppige Mann, der struppige Mann, wir sind alle hergekommen, um den struppigen Mann zu hören.< Eingängig, wie ein Lied, das man im Radio hört. Und ich bekam das Kichern. Ich wollte es nicht. Es hatte eigentlich gar nichts mit Mr. Enslins Gedichten zu tun, die waren ziemlich gut, und auch nicht mit seinem Aussehen. Nur damit, wie sie ihn angesehen haben.«
Sie sah ihren Vater an, wie er es aufnahm. Er nickte einfach, daß sie fortfahren sollte.
»Wie auch immer, ich mußte da raus. Ich mußte. Und Jessie war wütend auf mich. Ich bin sicher, er hatte ein Recht, wütend zu sein... es war eine kindische Handlungsweise, eine kindische Denkweise, ganz bestimmt... aber so bin ich nun mal öfters. Nicht immer. Ich kann etwas durchstehen...«
»Das stimmt.«
»Aber manchmal...«
»Manchmal klopft König Lachen bei dir an, und du gehörst zu denen, die ihn nicht abweisen können«, sagte Peter.
»So muß es wohl sein. Jedenfalls gehört Jess nicht zu diesen Leuten. Und wenn wir verheiratet wären... würde er heimkommen und diesen ungebetenen Gast vorfinden, den ich eingelassen habe - König Lachen. Nicht jeden Tag, aber oft genug, daß er wütend werden würde. Dann würde ich versuchen, mich zusammenzunehmen und... und...«
»Und unglücklich sein«, sagte Peter und drückte sie noch fester an sich.
»Wahrscheinlich«, sagte sie.
»Dann laß dich von deiner Mutter nicht umstimmen.«
Sie schloß die Augen, und diesmal war ihre Erleichterung noch größer. Er hatte es verstanden. Wie durch ein Wunder.
»Was hältst du von einer Abtreibung?« fragte sie nach einer Weile.
»Ich vermute, daß du eigentlich darüber mit mir reden wolltest.«
Sie sah ihn erstaunt an.
Er betrachtete sie halb fragend, halb lächelnd, eine buschige Braue - die linke - hochgezogen. Und dennoch war der allgemeine Eindruck, den sie empfand, großer Ernst.
»Das stimmt vielleicht«, sagte sie langsam.
»Hör zu«, sagte er, verstummte aber paradoxerweise gleich wieder. Aber sie hörte dennoch, und sie hörte Sperlinge, Grillen, das ferne, hohe Brummen eines Flugzeugs, jemand, der Jackie rief, daß er endlich reinkommen sollte, einen Motormäher, ein Auto mit schallgedämpftem Auspuff, das auf der US i beschleunigte. Sie wollte ihn gerade fragen, ob alles in Ordnung war, als er ihre Hand nahm und weitersprach.
»Frannie, eigentlich hast du so einen alten Vater nicht verdient, aber ich kann nichts dafür. Ich habe erst 1956 geheiratet.«
Er sah sie im Dämmerlicht nachdenklich an.
»Damals war Carla anders. Sie war... ach, verflucht, zunächst einmal war sie selbst noch jung. Sie hat sich erst verändert, als dein Bruder Freddy gestorben ist. Bis dahin war sie jung. Nach Freddys Tod hat sie aufgehört zu wachsen. Das... du darfst nicht denken, daß ich gegen deine Mutter rede, Frannie, auch wenn es sich ein wenig so anhören mag. Ich habe jedenfalls den Eindruck, als hätte Carla... aufgehört zu wachsen, als Freddy gestorben war. Sie hat drei Schichten Beton und eine Schicht Schnellbinder auf ihre Ansichten gekleistert und fand es gut. Heute ist sie wie ein Museumswärter, und wenn sie sieht, daß sich jemand an den Ausstellungsstücken zu schaffen macht, kommt sie ihnen jedesmal mit einem >Paßt bloss auf<. Aber sie war nicht immer so. Das mußt du mir glauben, sie war nicht immer so.«
»Wie war sie denn, Daddy?«
»Nun...« Er ließ gedankenverloren den Blick über den Garten schweifen. »Sie war dir sehr ähnlich, Frannie. Sie bekam das Kichern. Wir sind nach Boston gegangen und haben die Spiele der Red Sox angesehen, und in der siebten Runde ist sie mit mir auf ein Bier zum Imbiß gegangen.«
»Mama... hat Bier getrunken?«
»O ja. Und sie verbrachte den größten Teil der neunten Runde auf der Damentoilette und hat mich anschließend beschimpft, weil sie meinetwegen den besten Teil des Spiels verpaßt hatte. Dabei war sie immer diejenige, die zum Imbiß und ein Bier trinken wollte.«
Frannie versuchte, sich ihre Mutter mit einem Becher NarragansettBier in einer Hand vorzustellen, während sie zu ihrem Mann aufsah wie ein Mädchen bei einer Verabredung. Es gelang Frannie einfach nicht.
»Sie wurde einfach nicht schwanger«, sagte er nachdenklich. »Wir gingen zum Arzt, sie und ich, um festzustellen, an wem es lag. Der Arzt sagte, an keinem. 1960 kam dann dein Bruder Fred auf die Welt. Sie hat den Jungen einfach abgöttisch geliebt, Fran. Weißt du, Fred hieß ihr Vater. 1965 hatte sie eine Fehlgeburt, und wir dachten beide, daß es mit Nachwuchs aus und vorbei wäre. Dann bist du gekommen, 1969, einen Monat zu früh, aber gesund und munter. Und ich habe dich abgöttisch geliebt. Wir hatten beide unseren Abgott. Aber sie hat ihren verloren.«
Er verstummte und brütete düster. Fred Goldsmith war 1973 gestorben. Er war dreizehn gewesen, Frannie sechs. Der Mann, der Fred angefahren hatte, war betrunken gewesen. Er hatte ein langes Register von Verkehrsdelikten, darunter überhöhte Geschwindigkeit, verkehrsgefährdendes Verhalten, Fahren unter Alkoholeinfluß. Fred hatte noch sieben Tage gelebt.