»Ich finde, Abtreibung ist ein zu sauberer Name dafür«, sagte Peter Goldsmith. Seine Lippen formten jedes Wort langsam, als würden sie ihm Schmerzen bereiten. »Ich halte es für Kindesmord, schlicht und einfach. Tut mir leid, daß ich das sage, daß ich so... unflexibel bin, festgefahren, was auch immer ... und noch dazu über etwas, das du jetzt in Erwägung ziehen mußt, und sei es nur, weil dir das Gesetz die Möglichkeit gibt, es in Erwägung zu ziehen. Ich habe dir ja gesagt, ich bin ein alter Mann.«
»Du bist nicht alt, Daddy«, murmelte sie.
»Bin ich, bin ich!« sagte er rauh. Er sah plötzlich gequält drein. »Ich bin ein alter Mann, der seiner jungen Tochter einen Rat geben will, und es ist, als würde ein Affe einem Bären Tischsitten beibringen wollen. Vor siebzehn Jahren hat ein betrunkener Autofahrer meinen Sohn getötet, und seither ist meine Frau nicht mehr dieselbe. Bei Abtreibung mußte ich immer an Fred denken. Ich kann nicht anders, so wie du nicht anders gekonnt hast, als du bei der Dichterlesung das Kichern bekommen hast, Frannie. Deine Mutter würde sich aus allen sattsam bekannten Gründen dagegen aussprechen. Moral, würde sie sagen. Eine Moral, die zweitausend Jahre alt ist. Das Recht auf Leben. Unsere ganze westliche Moral basiert auf diesem Gedanken. Ich habe die Philosophen gelesen. Ich habe sie abgeklappert wie eine Hausfrau mit einem Dividendenscheck einen Laden von Sears and Roebuck. Deine Mutter hält sich an den Reader's Digest, aber es endet immer damit, daß ich vom Gefühl her argumentiere und sie von der Moral. Ich sehe immer Fred. Er hatte schwere innere Verletzungen. Er hatte keine Chance. Die Abtreibungsgegner halten ihre Bilder von in Salz ertränkten Babies hoch, von Armen und Beinen, die auf einen Stahltisch ausgeschabt worden sind. Na und? Der Tod ist niemals schön. Ich sehe nur Fred, der sieben Tage in seinem Bett lag, alles kaputt und verbunden. Das Leben ist billig und Abtreibung macht es noch billiger. Ich lese mehr als deine Mutter, aber letztendlich ist sie diesbezüglich die Vernünftigere. Was wir tun, was wir denken... das beruht so oft auf willkürlichen Entscheidungen, auch wenn es richtig ist. Darüber komme ich nicht hinweg. Es ist wie ein Kloß in meinem Hals, dass jede wahre Logik aus dem Irrationalen zu kommen scheint. Aus dem Glauben. Ich rede dummes Zeug, was?«
»Ich will keine Abtreibung«, sagte sie. »Ich habe meine Gründe.«
»Und die wären?«
»Das Baby ist ein Teil von mir«, sagte sie und hob leicht das Kinn.
»Wirst du es weggeben, Frannie?«
»Ich weiß nicht.«
»Möchtest du es?«
»Nein. Ich will es behalten.«
Er schwieg. Sie glaubte, seine Mißbilligung zu spüren.
»Du denkst ans Studium, nicht wahr?« fragte sie.
»Nein«, sagte er und stand auf. Er stemmte die Hände gegen den Rücken und grinste zufrieden, als die Gelenke knackten. »Ich denke, wir haben genug geredet. Und daß diese Entscheidung noch ein wenig Zeit hat.«
»Mom ist wieder da«, sagte sie.
Er folgte ihrem Blick und sah den Kombi in die Einfahrt einbiegen, wo das Chrom im letzten Licht des Tages glänzte. Carla sah sie, hupte und winkte fröhlich.
»Ich muß es ihr sagen«, meinte Frannie.
»Ja. Aber warte ein oder zwei Tage, Frannie.«
»Gut.«
Sie half ihm die Gartenwerkzeuge aufsammeln, dann gingen sie gemeinsam zum Kombi.
7
Im düsteren Licht, das sich nach Sonnenuntergang, aber noch vor der wahren Dunkelheit über das Land senkt, in einer von den wenigen Minuten, die Filmemacher die »magische Stunde« nennen, erwachte Vic Palfrey aus einem grünen Delirium zu kurzer geistiger Klarheit.
Ich sterbe, dachte er, und die Worte hallten seltsam durch seinen Verstand, was ihn in dem Glauben wiegte, er hätte sie laut ausgesprochen, obwohl es nicht so war.
Er sah sich um und erblickte ein Krankenhausbett, das hochgekurbelt war, damit seine Lunge nicht in Flüssigkeit ertrank. Er war mit Wäscheklammern aus Metall gesichert, die Seitenteile des Betts waren hochgezogen.
Muß um mich geschlagen haben, dachte er leicht amüsiert. Hab' gestrampelt. Und verspätet: Wo bin ich?
Er hatte einen Latz um den Hals, und dieser Latz war von Schleimklumpen verkrustet. Er hatte Kopfschmerzen. Seltsame Gedanken tanzten in seinem Kopf und wieder hinaus, und er wußte, er war im Delirium gewesen... und würde es bald wieder sein. Er war krank, und dies war nicht die Genesung, nicht einmal der Anfang davon, sondern lediglich eine kurze Atempause.
Er drückte die Innenseite des Handgelenks auf die Stirn und zog sie wieder weg, so wie man die Hand von einem heißen Herd wegzieht. Am Verbrennen und voller Schläuche. Zwei kleine durchsichtige aus Plastik kamen ihm aus der Nase. Ein weiterer kam unter dem Laken hervor und führte zu einer Flasche auf dem Boden, und er wußte, womit dessen anderes Ende verbunden war. Zwei Flaschen hingen an einem Gestell neben dem Bett, aus jeder kam ein Schlauch heraus, die sich zu einem Y vereinten, das dicht unter dem Ellbogen in seinen Arm hineinführte. Eine Infusion.
Das sollte eigentlich genügen, dachte er. Aber er hatte auch noch Kabel am Leib. Auf der Kopfhaut. Der Brust. Am linken Arm. Eines schien in seinen gottverdammten Nabel gekleistert zu sein. Und um allem die Krone aufzusetzen, war er ziemlich sicher, daß er auch etwas im Arsch stecken hatte. Was in Gottes Namen konnte das sein? Ein Scheiße-Radar?
»He!«
Er hatte einen hallenden, entrüsteten Schrei ausstoßen wollen. Statt dessen kam das bescheidene Flüstern eines todkranken Mannes heraus. Und mit dem Flüstern kam Schleim geflogen, an dem er zu ersticken schien.
Mama, hat George das Pferd reingebracht?
Das war die Sprache des Deliriums. Ein irrationaler Gedanke, der wie ein Meteor kühn über das Firmament vernünftigeren Überlegens schoß. Dennoch hielt er ihn einen Augenblick lang beinahe zum Narren. Er würde nicht lange bei klarem Verstand bleiben. Dieser Gedanke wiederum erfüllte ihn mit Panik. Er betrachtete seine knochigen Arme und schätzte, daß er an die dreißig Pfund verloren haben mußte, und er hatte schon vorher nicht eben viel gewogen. Dieses... was immer es war... brachte ihn um. Die Vorstellung, er könnte Unsinn und Unflat brabbeln wie ein seniler alter Mann, entsetzte ihn.
Georgie ist mit Norma Willis ausgegangen. Du mußt das Pferd ganz alleine reinbringen und ihm den Futterbeutel umhängen, sei ein braver Junge.
Ist nicht meine Aufgabe.
Victor, du hast deine Mama doch lieb, also los.
Schon. Aber es ist nicht...
Du mußt jetzt lieb zu deiner Mama sein. Mama hat Grippe. Nein, hast du nicht, Mama. Du hast TB. Und die TB wird dich umbringen. Neunzehnhundertsiebenundvierzig. Und George wird sechs Tage nach seiner Ankunft in Korea sterben, gerade Zeit für einen einzigen Brief, und dann peng peng. George ist... Vic, du hilfst mir jetzt und bringst das Pferd rein, und das ist mein letztes Wort.
»Ich habe die Grippe, nicht sie«, flüsterte er, als er wieder an die Oberfläche kam. »Ich.«
Er sah die Tür an und dachte, daß es selbst für ein Krankenhaus eine verdammt komische Tür war. Abgerundet, die Fugen abgedichtet, das untere Ende mehr als zehn Zentimeter vom Kachelboden entfernt. Sogar ein Stümper von einem Zimmermann wie Vic Palfrey konnte (gib mir die Comics Vic du hast sie lange genug gehabt)
(Mama, er hat mir die Sonntagsbeilage weggenommen! Gib sie her! Gib sie heeeeeeer!)
eine bessere bauen. Sie war aus
(Stahl)