»Nach Manhattan. Zum Chemical Bank Building«, sagte er. Das Taxi fädelte sich in den Verkehr ein. »Sie haben sich an der Stirn geschnitten«, sagte der Fahrer.
»Ein Mädchen hat einen Bratwender nach mir geworfen«, sagte Larry geistesabwesend.
Der Fahrer schenkte ihm ein seltsam falsches, verständnisvolles Lächeln, fuhr weiter und ließ Larry sich auf dem Rücksitz einrichten und überlegen, wie er seiner Mutter die nächtliche Abwesenheit erklären sollte.
11
Larry fand in der Lobby eine müde aussehende farbige Frau, die ihm sagte, Alice Underwood sei wahrscheinlich im vierundzwanzigsten Stock, wo sie Inventur mache. Er ging zum Fahrstuhl, fuhr hinauf und stellte fest, daß ihm die anderen in der Kabine verstohlene Blicke zuwarfen. Die Verletzung an der Stirn blutete nicht mehr, war aber zu einer abstoßenden Kruste getrocknet.
Im vierundzwanzigsten Stock befanden sich die Büros einer japanischen Kamerafirma. Larry ging fast zwanzig Minuten die Flure entlang, suchte nach seiner Mutter und kam sich wie das letzte Arschloch vor. Es waren eine Menge Angestellte aus dem Okzident anwesend, aber auch so viele Japaner, daß er sich mit seinen eins siebenundachtzig wie ein ziemlich großes Arschloch vorkam. Die kleinen Männer und Frauen mit den hochgezogenen Schlitzaugen betrachteten seine verkrustete Stirn und den blutigen Jackettärmel mit beunruhigender orientalischer Unverbindlichkeit.
Hinter einem sehr großen Farnbaum entdeckte er schließlich eine Tür mit der Aufschrift HAUSMEISTER & ZUBEHÖR. Er drehte den Knauf. Die Tür war nicht verschlossen, und er spähte hinein. Seine Mutter war drinnen, sie trug die abgetragene graue Uniform, Putzzeug und Schuhe mit Kreppsohlen. Das Haar war straff unter einem schwarzen Netz verborgen. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt. In einer Hand hielt sie einen Notizblock und schien Putzmittelflaschen auf einem hohen Regal zu zählen. Larry verspürte den starken und schuldbewußten Impuls, sich einfach umzudrehen und wegzulaufen. Zum Parkhaus zwei Blocks von ihrer Wohnung entfernt und den Z holen. Scheiß auf die zwei Monatsmieten, die er gerade für den Parkplatz hingeblättert hatte. Einfach reinsetzen und Boogie. Aber Boogie wohin? Irgendwohin. Bar Harbor, Maine. Tampa, Florida. Salt Lake City, Utah. Alles war gut, wo er sich in sicherer Entfernung von Dewey the Deck und seinem nach Seife riechenden Köfferchen befand. Er wußte nicht, ob es am Neonlicht oder der Stirnverletzung lag, aber er bekam Scheißkopfschmerzen. "
Ach, hör auf zu flennen, alter Waschlappen.
»Hi, Mom«, sagte er.
Sie zuckte etwas zusammen, drehte sich aber nicht um. »Aha, Larry. Demnach hast du deinen Weg in die besseren Viertel gefunden.«
»Klar.« Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich wollte mich entschuldigen. Ich hätte gestern abend anrufen sollen...«
»Ja. Gute Idee.«
»Ich war bei Buddy. Wir... äh... waren auf Tour. Haben die Stadt unsicher gemacht.«
»Das dachte ich mir. Oder etwas Ähnliches.« Sie hakte mit dem Fuss einen kleinen Hocker zu sich heran, stieg darauf und fing an, die Bohnerwachsflaschen auf dem obersten Regal zu zählen, wobei sie jede einzelne kurz mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand berührte. Sie mußte sich dabei strecken, weshalb ihr Kleid hochrutschte, und er konnte über dem braunen Saum ihrer Strümpfe das weiße Fleisch der Oberschenkel sehen und wandte sich abrupt ab, weil ihm plötzlich wie aus heiterem Himmel einfiel,was mit Noahs drittem Sohn passiert war, als dieser seinen alten Herrn angesehen hatte, der nackt und betrunken auf der Decke lag. Der arme Kerl war hinterher bloß noch Holzfäller und Wasserträger gewesen. Er und seine sämtlichen Nachfahren. Und deshalb haben wir heute Rassenunruhen, Sohn. Gelobt sei Gott.
»Bist du nur gekommen, um mir das zu sagen?« fragte sie und drehte sich zum ersten Mal zu ihm um.
»Um zu sagen, wo ich war und mich zu entschuldigen. Es war gemein von mir, daß ich es vergessen habe.«
»Ja«, sagte sie wieder. »Aber du hast eine gemeine Seite, Larry. Glaubst du, das hätte ich vergessen?«
Er wurde rot. »Mom, hör mal...«
»Du blutest. Hat dir eine Stripperin die Strapse um die Ohren geschlagen?« Sie wandte sich wieder dem obersten Regal zu, und als sie die ganze Flaschenreihe gezählt hatte, trug sie die Zahl auf dem Block ein. »Irgendwer hat vergangene Woche zwei Flaschen Bohnerwachs mitgehen lassen«, bemerkte sie. »Die Glückliche.«
»Ich wollte sagen, daß es mir leid tut!« sagte Larry laut. Sie zuckte nicht zusammen, aber er. Etwas.
»Ja, das hast du schon gesagt. Mr. Geoghan wird wie der Zorn Gottes über uns kommen, wenn noch mehr von diesem verdammten Bohnerwachs verschwindet.«
»Ich habe mich nicht in einer Bar geprügelt und war auch nicht in einem Striplokal. Nichts dergleichen. Es war nur...« Er verstummte. Sie drehte sich um und hatte die Brauen auf die sardonische Weise hochgezogen, an die er sich nur zu gut erinnerte. »War was?«
»Nun...« Er konnte sich nicht schnell genug eine überzeugende Lüge ausdenken. »Es war. Ein. Ah. Bratwender.«
»Hat dich jemand mit einem Spiegelei verwechselt? Du und Buddy scheint ja eine tolle Nacht in der Stadt hinter euch zu haben.«
Er vergaß, daß sie ihn in die Enge treiben konnte; das hatte sie immer gekonnt und würde es wahrscheinlich auch immer können.
»Es war ein Mädchen, Ma. Sie hat ihn nach mir geworfen.«
»Muß ja eine regelrechte Kunstschützin sein«, sagte Alice Underwood und wandte sich wieder ab. »Diese verflixte Consuela versteckt schon wieder die Bestellformulare vor uns. Nicht, daß sie viel nützen würden; wir bekommen nie alles, was wir brauchen, aber wir bekommen eine Menge Sachen, mit denen ich nichts anzufangen weiß, und wenn mein Leben davon abhängen würde.«
»Ma, bist du böse auf mich?«
Plötzlich ließ sie die Hände sinken. Ihre Schultern sackten herab.
»Sei nicht böse auf mich«, flüsterte er. »Bitte nicht. Okay? Hm?«
Sie drehte sich um, und er sah ein unnatürliches Funkeln in ihren Augen - nun, wahrscheinlich war es durchaus natürlich, aber es wurde ganz sicher nicht vom Neonlicht hier drinnen verursacht, und er hörte die Mundhygienikerin wieder mit großer Endgültigkeit sagen: Du bist kein netter Kerl. Warum hatte er sich überhaupt erst die Mühe gemacht, nach Hause zu kommen, wenn er ihr so etwas antat... und nichts darauf gab, was sie für ihn alles tat.
»Larry«, sagte sie zärtlich. »Larry, Larry, Larry.«
Einen Augenblick dachte er, sie würde nichts mehr sagen; wiegte sich sogar in der Hoffnung, es wäre so.
»Mehr kannst du nicht sagen? >Sei mir nicht böse, Mom. Bitte nicht<? Ich höre dich im Radio, und obwohl mir das Stück nicht gefällt, bin ich stolz darauf, daß du es bist, der da singt. Die Leute fragen mich, ob das wirklich mein Sohn ist, und ich sage ja, das ist Larry. Ich erzähle ihnen, daß du schon immer singen konntest, und das ist nicht gelogen, oder?«
Er schüttelte kläglich den Kopf, weil er nicht wußte, ob er einen Ton herausbringen würde.
»Ich erzähle ihnen, wie du die Gitarre von Donny Roberts genommen hast, als du zur High School kamst, und binnen einer Stunde besser spielen konntest als er, obwohl er seit der zweiten Klasse Unterricht hatte. Du warst begabt, Larry, das mußte mir nie jemand sagen, am allerwenigsten du. Ich glaube, das hast du auch gewußt; es war nämlich das einzige, worüber du nie geheult hast. Dann bist du weggegangen, und mache ich dir daraus einen Vorwurf? Nein. Junge Männer und Frauen gehen weg. So ist die Welt. Manchmal ist es beschissen, aber die Welt ist nun mal so. Dann kommst du zurück. Und muß mir jemand den Grund dafür sagen? Nein. Du kommst zurück, weil du, Single-Hit oder nicht, drüben an der Westküste in irgendeine Klemme geraten bist.«