Blumentapete, große grüne Blätter und rosa Blüten, ähnlich gefärbt wie die Rosen auf dem Teppich. Frühe amerikanische Möbel und eine dunkle Doppeltür aus Mahagoni. Ein Kamin, der lediglich Vorführzwecken diente, wo ewig ein Birkenstamm auf dem roten Backsteinboden lag, der ewig makellos war und nicht einmal ein Fleckchen Ruß aufwies. Frannie vermutete, der Stamm dürfte inzwischen so trocken sein, daß er wie Zunder brennen würde, sollte man ihn anzünden. Über dem Stamm hing ein Topf, der so groß war, daß man fast ein Baby darin baden konnte. Er war ein Erbstück von Frannies Urgroßmutter und hing ewig aufgehängt über dem ewigen Birkenstamm. Über dem Kaminsims hing, um das Bild abzurunden, die ewige Steinschloßflinte.
Segmente einer vertrockneten Zeit.
Eine ihrer frühesten Erinnerungen war an den mausgrauen Teppich mit den staubigrosa Rosen im Rand. Sie war vielleicht drei und noch nicht lange sauber, und wegen Unfallgefahr war ihr höchstens zu besonderen Anlässen gestattet, sich im Salon aufzuhalten. Aber irgendwie war sie hineingelangt, und als sie ihre Mutter sah, die nicht nur lief, sondern sich regelrecht überschlug, um sie wieder herauszuholen, bevor das Unvorstellbare geschehen konnte, war das Unvorstellbare eben geschehen. Sie konnte den Urin nicht mehr halten, und als ihre Mutter den wachsenden Flecken sah, der aus dem Mausgrau unter ihren Füßen ein dunkleres Schiefergrau machte, hatte sie tatsächlich gekreischt. Der Flecken war schließlich wieder rausgegangen, aber nach wieviel geduldigem Schrubben? Der Herr mochte es wissen; Frannie Goldsmith nicht. In diesem Salon hatte ihre Mutter grimmig, explizit und ausführlich mit ihr geredet, nachdem sie Frannie und Norman Burstein erwischt hatte (deren Kleidungsstücke in einem einzigen unordentlichen Haufen auf einem Heuballen lagen), wie sie sich gegenseitig untersuchten. Wie würde es ihr gefallen, hatte Carla gefragt, während die Großvateruhr ernst Segmente der vertrockneten Zeit wegtickte, wenn sie mit der splitternackten Frannie auf der U.S. Route 1 Spazierengehen würde? Wie wäre das? Frannie, damals sechs, hatte geweint, aber irgendwie die Hysterie vermieden, die diese Vorstellung mit sich brachte.
Mit zehn war sie mit dem Fahrrad gegen den Briefkastenpfosten gefahren, während sie über die Schulter sah und Georgette McGuire etwas zurief. Sie hatte eine Schnittwunde am Kopf, Nasenbluten, zwei aufgeschürfte Knie und hatte vor Schreck tatsächlich ein paar Sekunden das Bewußtsein verloren gehabt. Als sie wieder zu sich kam, stolperte sie den Weg zum Haus entlang und weinte vor Schrecken, weil soviel Blut aus ihr floß. Sie wäre zu ihrem Vater gegangen, aber da ihr Vater arbeiten war, stolperte sie ins Wohnzimmer, wo ihre Mutter Mrs. Venner und Mrs. Prynne Tee servierte. Hinaus! hatte ihre Mutter geschrien, und im nächsten Augenblick war sie aufgesprungen, zu Frannie gelaufen, hatte sie umarmt und gerufen: O Frannie, meine Güte, was ist denn passiert? Deine arme Nase! Aber sie führte Frannie in die Küche, wo man ungestört auf den Boden bluten konnte, während sie sie tröstete, und Frannie vergaß nie, daß ihre ersten Worte nicht O Frannie gewesen waren, sondern Hinaus ! Ihre erste Sorge galt dem Salon, wo die vertrocknete Zeit ewig währte und Blut nicht geduldet wurde. Vielleicht vergaß Mrs. Prynne das auch nie, denn Frannie hatte durch die Tränen den erschrockenen, schockierten Gesichtsausdruck der Frau gesehen. Nach diesem Tag waren Mrs. Prynnes Besuche äußerst selten geworden.
Im ersten Jahr der Junior High School hatte sie eine schlechte Note in Betragen bekommen, und sie war selbstverständlich in den Salon gebeten worden, um sich mit ihrer Mutter über diese schlechte Note zu unterhalten. Im letzten Jahr der Senior High School war sie dreimal suspendiert worden, weil sie Spickzettel weitergegeben hatte, und auch darüber hatte sie sich mit ihrer Mutter im Salon unterhalten. Dort hatten sie sich über Frannies Pläne für die Zukunft unterhalten, die am Ende immer ein wenig unzulänglich gewirkt hatten; dort hatten sie sich über Frannies Hoffnungen unterhalten, die am Ende immer ein wenig wertlos gewirkt hatten; dort hatten sie sich über Frannies Beschwerden unterhalten, die am Ende immer ungebührlich gewirkt hatten, ganz zu schweigen von quengelig, heulsusig und undankbar.
In diesem Salon stand der Sarg ihres Bruders auf dem Leichenwagen, bedeckt mit Rosen, Chrysanthemen und Lilien aus dem Tal, deren Duft das Zimmer erfüllte, während in der Ecke die ungerührte Uhr stand und Abschnitte der Zeit in einem Zeitalter der Dürre wegtickte.
»Du bist schwanger«, wiederholte Carla Goldsmith zum zweiten Mal.
»Ja, Mutter.« Ihre Stimme war trocken, aber sie leckte sich nicht die Lippen. Statt dessen preßte sie sie zusammen. Sie dachte: In der Werkstatt meines Vaters ist ein kleines Mädchen mit einem roten Kleid, das immer dort sein wird, lacht und sich unter dem Tisch versteckt, wo der Schraubstock festgeklammert ist, oder das hinter der Kommode mit den tausend Schubladen sitzt und die schorfigen Knie an die Brust drückt. Dieses Mädchen ist sehr, sehr glücklich. Aber im Salon meiner Mutter ist ein viel kleineres Mädchen, das nicht anders kann und auf den Teppich pinkelt wie ein ungezogener Hund. Wie eine böse kleine Welpe. Und auch sie wird immer dasein, wie sehr ich mir auch wünschen mag, sie wäre nicht da.
»O Frannie«, sagte ihre Mutter, die sehr hastig sprach. Sie legte eine Hand an die Wange wie eine vor den Kopf gestoßene altjüngferliche Tante. »Wie konnte das passieren?«
Jesses Frage. Das erboste sie richtig; genau dieselbe Frage, die er gestellt hatte.
»Du hast selbst zwei Kinder gehabt, Mutter, du dürftest wissen, wie es passiert ist.«
»Werd nicht frech!« schrie Carla. Sie riß die Augen weit auf und versprühte das glühende Feuer, das Frannie als Kind immer Entsetzen eingeflößt hatte. Sie sprang so schnell auf, wie es ihre Art war (und auch das hatte Frannie als Kind immer entsetzt), eine große Frau mit Haar, das langsam grau wurde, fein säuberlich hochgesteckt und onduliert und frisiert war, eine große Frau im grünen Kleid und faltenlosen beigen Strümpfen. Sie ging zum Kamin, wohin sie immer ging, wenn sie sich sehr aufregte. Dort, unter der Flinte, lag ein gewaltiges Album. Carla war eine Art Amateurgenealogin, und ihre ganze Familie war in diesem Buch... jedenfalls bis ins Jahr 1638 zurück, als der früheste nachweisbare Vorfahre lange genug aus der anonymen Londoner Masse aufgetaucht war, daß er in sehr alten Kirchenchroniken als Merton Downs, Freimaurer, geführt wurde. Der Stammbaum ihrer Familie war vor vier Jahren in The New England Genealogist veröffentlicht worden - Carla selbst war die Verfasserin.
Jetzt berührte sie dieses Buch fürsorglich aufgelisteter Namen, sicherer Boden, wo niemand eindringen konnte. Waren da drinnen irgendwo Diebe, fragte sich Frannie. Keine Alkoholiker? Keine ledigen Mütter?
»Wie konntest du deinem Vater und mir so etwas antun?« fragte sie schließlich. »War es dieser Jesse?«
»Es war Jesse. Jesse ist der Vater.«
Carla zuckte zusammen, als sie das Wort hörte.
»Wie konntest du nur?« wiederholte Carla. »Wir haben uns größte Mühe gegeben, dich richtig zu erziehen. Dies ist einfach... einfach...«
Sie legte die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen.
»Wie konntest du nur?« schrie sie erneut. »Ist das der Dank, nach allem, was wir für dich getan haben? Daß du hinausgehst und... und... es mit einem Jungen treibst wie eine läufige Hündin? Du ungezogenes Gör! Du ungezogenes Gör!«
Sie löste sich in Tränen auf, lehnte sich an den Kamin, um sich zu stützen, hielt eine Hand vor die Augen und strich mit der anderen unablässig über den grünen Stoff, mit dem das Album bespannt war. Die Großvateruhr tickte derweil gleichgültig.
»Mutter...«
»Sei still! Du hast genug gesagt!«
Frannie stand steif auf. Ihre Beine fühlten sich an wie Holz, aber das konnten sie nicht sein, weil sie zitterten. Auch in ihren Augen standen jetzt Tränen, aber sollten sie nur; sie wollte sich nicht noch einmal von diesem Zimmer besiegen lassen. »Ich gehe jetzt.«