»Fran?«
Nichts war so gekommen, wie es hätte kommen sollen. Alle Hoffnungen hatten getrogen. Sie waren so falsch gewesen wie diese audioanimatronischen Tiere in Disney World, nur ein Haufen Uhrwerk, ein Trugbild, eine falsche Dämmerung, eine falsche Schwangerschaft, eine...
»He, Frannie.«
Im Traum sah sie, daß Stu wiedergekommen war. Er stand an der Tür des Zimmers und trug einen riesigen Fellparka. Noch ein Trugbild. Aber im Traum hatte Stu einen Bart. War das nicht komisch?
Sie fragte sich, ob es überhaupt ein Traum war, als sie Tom Cullen hinter ihm stehen sah. Und... war das nicht Kojak, der neben Stu saß?
Plötzlich fuhr sie sich mit der Hand an die Wangen und kniff so kräftig hinein, daß ihr die Tränen kamen. Nichts änderte sich.
»Stu?« flüsterte sie. »O mein Gott, bist du's, Stu?«
Sein Gesicht war tief gebräunt, außer der Haut um die Augen, die eine Sonnenbrille bedeckt haben mochte. Kann man solche Einzelheiten träumen?
Sie kniff sich noch einmal.
»Ich bin's«, sagte Stu und trat ins Zimmer. »Hör auf, dich zu quälen, Schatz.« Er humpelte so stark, daß er fast stürzte. »Frannie, ich bin wieder zu Hause.«
»Stu!« schrie sie. »Bist du's wirklich? Wenn du's wirklich bist, komm zu mir!«
Er ging zu ihr und nahm sie in die Arme.
77
George Richardson und Dan Lathrop betraten Frans Krankenzimmer. Stu saß an ihrem Bett, und sie ergriff sofort seine Hand und drückte sie fest. Harte Linien zeichneten ihr Gesicht, und für einen Augenblick sah Stu, wie sie als alte Frau aussehen würde. Sie sah aus wie Mutter Abagail.
»Stu«, sagte George. »Ich habe ein paar Geschichten über eure Rückreise gehört. Das grenzt an ein Wunder. Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dich zu sehen. Wie wir alle.«
George schüttelte ihm die Hand und stellte Dan Lathrop vor. Dan sagte: »Hier erzählt man sich, es hätte in Las Vegas eine Explosion gegeben. Haben Sie es gesehen?«
»Ja.«
»Die Leute hier scheinen der Meinung zu sein, daß es sich um eine atomare Explosion gehandelt hat. Stimmt das?«
»Ja.«
George nickte und wandte sich dann an Fran.
»Wie geht es dir?«
»Danke, gut. Ich bin froh, daß ich meinen Mann wiederhabe. Was ist mit dem Baby?«
»Wegen des Babys sind wir hergekommen«, sagte Lathrop. Fran nickte. »Tot?«
George und Dan sahen sich an. »Frannie, ich möchte, daß du mir aufmerksam zuhörst, damit es keine Mißverständnisse gibt...«
Betont unbeteiligt, aber mit unterdrückter Hysterie sagte Fran:
»Wenn er tot ist, dann sag's mir doch einfach!«
»Fran«, sagte Stu.
»Peter scheint sich zu erholen«, sagte Dan Lathrop sanft. Für einen Augenblick herrschte die absolute Stille plötzlicher Erschütterung im Zimmer. Fran, ihr Gesicht ein blasses Oval in der Masse ihres dunklen kastanienbraunen Haares, blickte Dan so verständnislos an, als hätte er c hinesisch gesprochen. Irgend jemand - entweder Laurie Constable oder Marcy Spruce - steckte kurz den Kopf ins Zimmer und verschwand wieder. Es war ein Moment, den Stu nie vergessen würde.
»Was?« flüsterte Fran endlich.
George sagte: »Die Hoffnung kann trügen, Fran.«
»Du sagtest... er erholt sich«, sagte Fran. Sie konnte es einfach nicht fassen. Bis zu diesem Augenblick war ihr nicht bewußt gewesen, wie sehr sie sich schon mit dem Tod des Babys abgefunden hatte. George sagte: »Dan und ich haben während der Epidemie Tausende von Fällen gesehen, Fran... ich sage bewußt nicht >behandelt<, denn ich glaube nicht, daß es einem von uns beiden je gelungen ist, den Verlauf dieser Krankheit auch nur im geringsten zu beeinflussen. Kann man das sagen, Dan?«
»Ja.«
Die Ich-will-Linie, die Stu schon kurz nach ihrer ersten Begegnung in New Hampshire aufgefallen war, erschien auf Frans Stirn. »Möchtest du nicht endlich zur Sache kommen, um Himmels willen?«
»Das versuche ich, aber ich muß vorsichtig sein, und ich werde vorsichtig sein«, sagte George. »Es geht hier um das Leben deines Sohnes. Das Thema läßt sich nicht mit drei Worten abhandeln. Du mußt versuchen, unsere Gedankengänge zu verstehen. Captain Trips war eine Grippe, die das Immunsystem des Menschen überfordert. Jede Grippe - ich meine jetzt die alten Typen - hat einen anderen Erreger und taucht trotz Schutzimpfungen alle paar Jahre wieder auf. Da gibt es den A-Typ, genannt Hongkong-Grippe, und du läßt dich dagegen impfen. Aber zwei Jahre später kommt eine BTyp-Epidemie, und du wirst trotz Schutzimpfung krank, wenn du nicht auch gegen den B-Typ geimpft bist.«
»Man kann die Grippe aber auch ohne Schutzimpfung überstehen«, warf Dan ein, »denn der Körper entwickelt seine eigenen Abwehrstoffe, aber bei Captain Trips verändert sich die Grippe selbst, sobald der Körper die entsprechenden Abwehrstoffe produziert hat. In dieser Hinsicht war der Erreger von Captain Trips dem AIDS-Virus ähnlicher als jedem normalen Grippevirus, gegen den unser Körper Abwehrmechanismen entwickelt hat. Und wie AIDS wechselte Captain Trips immer wieder die Form, bis der Körper zu sehr geschwächt war, um neue Antikörper zu produzieren. Das unabwendbare Ergebnis war der Tod.«
»Warum haben wir es dann nicht bekommen?« fragte Stu. George sagte: »Das wissen wir nicht. Ich glaube auch nicht, daß wir es je erfahren werden. Aber wir sind sicher, daß die Leute, die die Seuche überlebt haben, die Krankheit nicht überwunden haben; sie haben sie einfach gar nicht bekommen. Das bringt uns zurück zu Peter. Dan?«
»Ja. Der Schlüssel zu Captain Trips ist die Tatsache, daß die Erkrankten immer nur beinahe auf dem Weg zur Gesundung waren, aber niemals völlig. Peter zeigte die ersten Symptome achtundvierzig Stunden nach seiner Geburt. Es gab keinen Zweifel, daß es sich um Captain Trips handelte - die Symptome waren klassisch. Aber diese dunklen Verfärbungen am Hals, die, davon sind George und ich inzwischen überzeugt, das vierte und letzte Stadium der Krankheit einleiten - sind bei Peter nie eingetreten. Außerdem werden seine Remissionsperioden immer länger.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Fran verwirrt. »Was...«
»Peters Immunsystem reagiert offenbar sehr schnell, sooft Captain Trips den Typ wechselt. Es besteht zwar immer noch die Möglichkeit, daß es zusammenbricht, aber Peters Körper ist nie in das letzte, kritische Stadium eingetreten. Es sieht jetzt fast so aus, als ob er es durchhält.«
Wieder war es still im Zimmer.
Dan sagte: »Wahrscheinlich hat er eine halbe Immunität von Ihnen geerbt, Fran. Er hat die Krankheit bekommen, aber wir glauben jetzt, daß er auch die Fähigkeit hat, sie zu überwinden. Wir nehmen an, daß Mrs. Wentworth' Zwillinge dieselbe Chance hatten, nur daß sie unter viel schlechteren Voraussetzungen geboren wurden - und ich glaube immer noch, daß sie vielleicht gar nicht an der Supergrippe gestorben sind, sondern an den Komplikationen, die sie hervorgerufen hat. Ich weiß, daß das nur ein sehr geringer Unterschied ist, aber er könnte entscheidend sein.«
»Und wie steht es um die anderen Babys von Vätern, die nicht immun waren?« fragte Stu.
»Wir nehmen an, daß sie alle dasselbe durchmachen müssen wie Ihr kleiner Peter jetzt«, sagte George. »Einige werden vielleicht sterben. Auch bei Peter mußten wir das zeitweise befürchten. Aber es wird nicht mehr lange dauern, bis alle ungeborenen Kinder in der Freizone - und in der Welt - von Eltern stammen, die beide immun sind. Wie wird es diesen Kindern ergehen? Nun, es wäre geschmacklos, darauf Wetten abzuschließen, aber ich bin ziemlich sicher, daß wir das Spiel gewinnen. Aber jetzt müssen wir uns um Peter kümmern und ihn sehr sorgfältig beobachten.«