»Ist mit Sally und Baby LaVon alles in Ordnung?« wollte er wissen. Speichel flog ihm von den Lippen, und Hap spürte die brennende Hitze, die von dem Mann ausging. Der Mann war krank, halb verrückt und stank. Hap fühlte sich an den Geruch erinnert, den alte Hundedecken manchmal annehmen.
»Denen geht es gut«, beharrte Hap ein wenig panisch. »Legen Sie... legen Sie sich wieder hin, und beruhigen Sie sich, okay?«
Der Mann legte sich wieder zurück. Sein Atem klang jetzt rauher. Hap und Hank rollten ihn auf die Seite, worauf sich seine Atmung ein wenig zu normalisieren schien. »Bis gestern abend fühlte ich mich ganz gut«, sagte er. »Husten, aber sonst nichts. Die Nacht bin ich dann damit aufgewacht. Ich bin nicht schnell genug weggekommen. Was ist mit Baby LaVon... ?«
Der Rest war so undeutlich, daß es keiner verstehen konnte. Die Sirene des Krankenwagens kam immer näher. Stu trat ans Fenster, um Ausschau zu halten. Die anderen blieben im Kreis um den Mann auf dem Fußboden stehen.
»Kannst du dir vorstellen, was ihm fehlt, Vic?« fragte Hap. Vic schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
»Vielleicht haben sie irgendwas gegessen«, sagte Norm Bruett. »Der Wagen hat ein kalifornisches Kennzeichen. Sie haben unterwegs wahrscheinlich immer nur in Autobahnraststätten gegessen. Vielleicht einen vergifteten Hamburger. So was kommt vor.«
Der Krankenwagen fuhr aufs Gelände, wich dem schrottreifen Chevy aus und blieb zwischen ihm und der Tür stehen. Das rote Warnlicht warf irre tanzende Kreise. Inzwischen war es völlig dunkel.
»Gib mir die Hand, ich zieh dich da unten raus«, rief der Mann auf dem Fußboden plötzlich und verstummte.
»Lebensmittelvergiftung«, sagte Vic. »Ja, das könnte sein. Ich hoffe es, denn sonst...«
»Sonst was?« fragte Hank.
»Sonst könnte es was Ansteckendes sein.« Vic sah die anderen besorgt an. »1958 habe ich in der Nähe von Nogales Cholerafälle gesehen, und das sah so ähnlich aus.«
Drei Männer rollten eine Bahre herein. »Hap«, sagte einer von ihnen.
»Du hast Glück gehabt, daß du mit deinem runzligen Arsch nicht ins Jenseits geflogen bist. Der da, hm?«
Sie traten zur Seite, um die Männer durchzulassen - Billy Verecker, Monty Sullivan, Carlos Ortega, alles Männer, die sie kannten.
»Im Auto sind noch zwei«, sagte Hap und zog Monty beiseite. »Eine Frau und ein kleines Mädchen. Beide tot.«
»Ach du Scheiße! Bist du sicher?«
»Ja. Der Mann weiß es noch nicht. Bringt ihr ihn nach Braintree?«
»Wahrscheinlich.« Monty sah ihn bestürzt an. »Was soll ich mit den beiden im Auto anfangen? Ich weiß nicht, was ich machen soll, Hap.«
»Stu kann die State Patrol anrufen. Macht es dir was aus, wenn ich mit euch fahre?«
»Nein, verdammt!«
Sie legten den Mann auf die Bahre, und als sie ihn hinausrollten, ging Hap zu Stu hinüber. »Ich fahr' mit dem Burschen nach Braintree. Rufst du die State Patrol an?«
»Klar.«
»Und Mary auch. Ruf an und sag ihr, Was passiert ist.«
»Okay.«
Hap ging nach draußen und stieg in den Krankenwagen. Billy Verecker schlug hinter ihm die Tür zu und rief die beiden anderen. Sie hatten entsetzt und fasziniert zugleich in das Wrack des Chevy gestarrt.
Augenblicke später fuhr der Krankenwagen mit heulender Sirene davon, und das Rotlicht warf pulsierende blutige Schatten auf den Asphalt der Tankstelle. Stu ging zum Telefon und warf eine Münze ein.
Der Mann aus dem Chevy starb zwanzig Meilen vom Krankenhaus entfernt. Er holte noch einmal gurgelnd Luft, atmete aus, atmete noch ganz kurz ein und war still.
Hap nahm dem Mann di e Brieftasche aus der Hosentasche und sah hinein. Der Mann hatte siebzehn Dollar in bar. Ein kalifornischer Führerschein wies ihn als Charles D. Campion aus. Außerdem fand Hap einen Armeeausweis und ein in Plastik eingeschweißtes Foto von der Frau des Mannes und seiner kleinen Tochter. Hap wollte das Bild nicht ansehen.
Er stopfte die Börse wieder in die Taschen des Toten und sagte Carlos, daß er die Sirene abschalten könne. Es war zehn nach neun.
2
In Ogunquit, Maine, führte vom Strand aus eine lange, aus Steinen errichtete Mole in den Atlantischen Ozean. Heute erinnerte sie Frannie Goldsmith an einen vorwurfsvollen grauen Finger, und als sie das Auto auf dem öffentlichen Parkplatz abgestellt hatte, sah sie Jess am Ende der Mole sitzen, eine Silhouette im Nachmittagssonnenschein. Möwen kreisten und kreischten über ihm, ein lebensecht gezeichnetes Porträt New Englands, und sie glaubte nicht, daß eine Möwe es wagen würde, dieses Bild zu verschandeln, indem sie einen Platscher weißer Kacke auf Jesse Riders makelloses blaukariertes Baumwollhemd fallen ließ. Immerhin war er praktizierender Dichter.
Sie wußte, daß es Jess war, weil sie sein Zehngangrennrad sah, das er ans Metallgeländer hinter der Bude des Parkwächters angekettet hatte. Gus, eine kahlköpfige und schmerbäuchige städtische Institution, kam heraus, um sie zu begrüßen. Für Besucher betrug die Gebühr einen Dollar pro Auto, aber er wußte, daß Frannie in der Stadt lebte, auch ohne den Aufkleber EINHEIMISCH an der Windschutzscheibe des Volvo anzusehen. Frannie kam oft hierher. Ja, oft, dachte Frannie. Ich bin sogar hier unten am Strand schwanger geworden, ungefähr vier Meter über der Hochwassermarke. Liebes Kleines: Du bist an der malerischen Küste des Staates Maine gezeugt worden, vier Meter über der Hochwassermarke und zwanzig Meter östlich der Strandbegrenzung. Die Stelle ist mit einem X markiert.
Gus hob die Hand und machte das Peace-Zeichen.
»Ihr Freund sitzt draußen auf der Mole, Miss Goldsmith.«
»Danke, Gus. Wie läuft das Geschäft?«
Er zeigte lächelnd zum Parkplatz hinüber. Dort standen alles in allem vielleicht zwei Dutzend Wagen, an den meisten konnte sie den blauweißen Aufkleber EINHEIMISCH sehen.
»Ist noch zu früh«, sagte er. Es war der 17. Juni. »Warten Sie zwei Wochen, dann verdienen wir schon noch ein paar Dollar für die Stadt.«
»Jede Wette. Wenn Sie nicht alles unterschlagen.«
Gus lachte und ging wieder in seine Bude.
Frannie lehnte sich mit einem Arm gegen das warme Metall des Autos, zog die Turnschuhe aus und schlüpfte in ein Paar Gummisandalen. Sie war groß und hatte kastanienbraunes Haar, das ihr lang über den Rücken ihres braungelben Kleides fiel. Gute Figur. Lange Beine, die ihr bewundernde Blicke einbrachten. Erste Sahne war, glaubte sie, unter Studenten wohl der korrekte Ausdruck. Auf die Plätzchen, hier kommt Schätzchen. Miß College Girl 1990. Dann mußte sie über sich lachen, und das Lachen war ein wenig bitter. Du tust gerade so, als wäre dies eine Weltsensation. Kapitel sechs: Hester Prynne bringt Reverend Dimmesdale die Nachricht von Pearls bevorstehender Geburt. Dimmesdale war er nicht. Er war Jess Rider, zwanzig, ein Jahr jünger als unsere Heldin, die kleine Frau. Er war praktizierender Vorsemester-College-StudentenDichter. Das erkannte man an seinem makellosen blauen Baumwollhemd.
Sie blieb am Rand des Sandstrandes stehen und spürte durch die Gummisandalen die Wärme an den Fußsohlen. Die Silhouette am anderen Ende der Mole warf immer noch flache Steine ins Wasser.
Frans Gedanken waren teils amüsant, hauptsächlich aber bestürzend. Er weiß, wie er da draußen aussieht, dachte sie. Lord Byron, einsam, aber unerschrocken. In tiefer Einsamkeit sitzt er dort und blickt über das Meer, das dorthin zurückführt, wo England liegt. Aber ich, ein Verbannter, werde nie mehr...
Ach, Scheiße!
Nicht so sehr der Gedanke selbst beunruhigte sie, sondern was er über ihren Seelenzustand aussagte. Dort draußen saß der junge Mann, den sie zu lieben glaubte, und sie stand hier und karikierte ihn hinter seinem Rücken.