Er drückte mit dem Kinn den Knopf der Sprechanlage in seinem Helm und sagte: »Wenn das nicht hilft, ist er um Mitternacht tot.«
Für Vic Palfrey war die magische Stunde vorbei.
»Bitte krempeln Sie den Ärmel hoch, Mr. Redman«, sagte die hübsche dunkelhaarige Schwester. »Es dauert nicht lange.« Sie hatte Handschuhe an und hielt den Blutdruckmesser. Sie lächelte hinter der Plastikmaske, als teilten sie beide ein amüsantes Geheimnis.
»Nein«, sagte Stu.
Das Lächeln wurde ein wenig unsicher. »Nur den Blutdruck. Es dauert höchstens eine Minute.«
»Nein.«
»Anweisungen des Arztes«, sagte sie und wurde sachlich. »Bitte.«
»Wenn es eine Anweisung des Arztes ist, will ich den Arzt sprechen.«
»Tut mir leid, der ist beschäftigt. Wenn Sie bitte...«
»Ich warte«, sagte Stu gleichmütig und machte keine Anstalten, die Manschette des Hemdsärmels aufzuknöpfen.
»Ich mache nur meine Arbeit. Wollen Sie denn, daß ich Schwierigkeiten bekomme ?« Sie schenkte ihm den Rest ihres bezaubernden Lächelns. » Lassen Sie mich nur...«
»Nein«, sagte Stu. »Gehen Sie, und sagen Sie es ihnen. Sie werden jemand schicken.«
Mit einem besorgten Blick trat die Schwester zur Stahltür und drehte einen Vierkantschlüssel im Schloß. Die Pumpe sprang an, die Tür öffnete sich zischend, die Schwester trat hinaus. Bevor sie die Tür wieder schloß, sah sie Stu vorwurfsvoll an. Stu erwiderte den Blick freundlich.
Als die Tür zu war, stand er auf und trat unruhig ans Fenster - Doppelscheiben, außen vergittert -, aber es war schon dunkel, und er konnte nichts erkennen. Er ging zurück und setzte sich. Er trug verblichene Jeans, ein kariertes Hemd und braune Stiefel, bei denen die Seitennähte sich wölbten. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und zog eine mißbilligende Grimasse, als er die Stoppeln spürte. Man gestattete ihm nicht, sich zu rasieren, und sein Bart wuchs schnell.
Gegen die Tests selbst hatte er nichts einzuwenden. Er hatte etwas dagegen, daß sie ihn im unklaren, in Angst, ließen. Er war nicht krank, jedenfalls noch nicht, aber er hatte Angst. Hier ging irgend etwas vor sich, und er wollte erst wieder mitspielen, wenn ihm jemand sagte, was in Arnette geschehen war und was dieser Campion damit zu tun hatte. Dann hätte er wenigstens einen vernünftigen Grund für seine Angst.
Sie hatten schon früher damit gerechnet, daß er fragen würde, er hatte es in ihren Augen gesehen. Im Krankenhaus hat man gewisse Methoden, einem etwas zu verheimlichen. Vor vier Jahren war seine Frau mit siebenunddreißig Jahren an Krebs gestorben, der in der Gebärmutter angefangen und sich rasch über den ganzen Körper ausgebreitet hatte, wie ein Waldbrand, und Stu hatte miterlebt, wie die Ärzte ihren Fragen auswichen, indem sie entweder das Thema wechselten oder ihr die Informationen nur in unverständlichem Fachlatein gaben. Deshalb hatte er einfach nicht gefragt und gemerkt, daß es den Leuten hier Sorgen machte. Aber jetzt war es Zeit, Fragen zu stellen, und er würde Antworten bekommen. In leicht verständlichen Worten.
Einige Lücken konnte er selbst ausfüllen. Campion, dessen Frau und dessen Tochter hatten etwas ziemlich Böses gehabt. Es befiel einen wie Grippe oder eine Sommererkältung, nur daß es immer schlimmer wurde, vermutlich bis man an seinem eigenen Rotz erstickte oder einen das Fieber verbrannte. Es war außerordentlich ansteckend.
Sie hatten ihn am Nachmittag des Siebzehnten geholt, vor zwei Tagen. Vier Männer von der Armee und ein Arzt. Höflich, aber bestimmt. Eine Weigerung stand außer Frage; alle vier Soldaten waren bewaffnet gewesen. Da hatte Stu Redman es echt mit der Angst zu tun bekommen.
Als regelrechte Karawane hatten sie Arnette verlassen und waren zum Flugplatz von Braintree gefahren. Stu war mit Vic Palfrey, Hap, den Bruetts, Hank Carmichael, dessen Frau und zwei Unteroffizieren gefahren. Sie hatten sich alle in den Armeekombi zwängen müssen, und die Jungs von der Armee hatten weder ja noch nein noch vielleicht gesagt, wie hysterisch Lila Bruett sich auch aufführte. Auch die anderen Wagen waren voll besetzt. Stu hatte nicht alle erkannt, aber er hatte alle fünf Angehörigen der Familie Hodges gesehen, und Chris Ortega, Bruder von Carlos und Fahrer des Krankenwagens. Chris war Barkeeper in Indian Head. Stu hatte Parker Mason und seine Frau gesehen, die beiden älteren Leute aus der Wohnwagenkolonie in der Nähe seines Hauses. Stu vermutete, daß die Soldaten sich jeden gegriffen hatten, der bei der Tankstelle gewesen war, und jeden, mit dem die Leute von der Tankstelle gesprochen hatten, seit Campion die Zapfsäulen umgenietet hatte.
An der Stadtgrenze hatten zwei olivgrüne Lastwagen die Straße versperrt. Stu nahm an, daß die anderen Straßen, die nach Arnette führten, ebenfalls gesperrt waren. Die Soldaten waren dabeigewesen, Stacheldraht auszurollen, und wenn sie die Stadt abgeriegelt hatten, würden sie wahrscheinlich auch Posten aufstellen.
Demnach war es ernst. Todernst.
Er saß geduldig neben dem Krankenhausbett, das er noch nicht benutzt hatte, und wartete darauf, daß die Schwester jemanden brachte. Der erste Jemand würde ein Niemand sein. Vielleicht würden sie bis zum nächsten Morgen einen Jemand bringen, der befugt war, ihm alles zu erzählen, was er wissen mußte. Er konnte warten. Geduld war schon immer Stu Redmans starke Seite gewesen.
Um sich zu beschäftigen, dachte er über den Zustand der Leute nach, die mit ihm zusammen zum Flugplatz gefahren waren. Norm war der einzige offensichtlich Kranke gewesen. Er hatte gehustet, Schleim ausgespuckt und Fieber gehabt. Die übrigen schienen alle mehr oder weniger stark erkältet zu sein. Luke Bruett hatte geniest. Lila Bruett und Vic Palfrey hatten leichten Husten gehabt. Hap hatte sich einen Schnupfen geholt und sich laufend die Nase geschneuzt. Es hatte sich kaum anders angehört als früher in der ersten oder zweiten Schulklasse, wenn zwei Drittel der Kinder ständig irgendwas gehabt hatten.
Aber was ihm am meisten angst gemacht hatte, war geschehen, als sie auf die Startbahn fuhren. Vielleicht war es Zufall gewesen, aber der Armeefahrer hatte dreimal schallend geniest. Wahrscheinlich nur Zufall. Für Leute mit Allergien war der Juni im östlichen Texas eine schlimme Zeit. Vielleicht hatte der Fahrer sich auch nur eine ganz gewöhnliche Erkältung geholt und nicht die unheimliche Scheiße wie die anderen. Denn etwas, das so schnell von einem Menschen auf den anderen übertragen wurde...
Ihre Armee-Eskorte war mit ihnen an Bord des Flugzeugs gegangen. Die Männer flogen mit stoischer Ruhe und weigerten sich, Fragen zu beantworten, außer nach dem Flugzieclass="underline" Atlanta. Dort würde man ihnen mehr sagen (eine schamlose Lüge). Darüber hinaus gaben die Männer von der Armee keine Auskunft.
Hap saß während des Fluges neben Stu und war ziemlich besoffen. Das Flugzeug war eine Militärmaschine, kaum Komfort, aber Fusel und Essen entsprachen zivilem Flugverkehr erster Klasse. Statt einer hübschen Stewardeß nahm zwar ein Sergeant Wünsche entgegen, aber wenn man darüber hinwegsah, ließ es sich aushalten. Als sie ein paar Grasshoppers intus hatte, beruhigte sich sogar Lila Bruett. Hap beugte sich herüber und hüllte Stu in einen warmen Whiskynebel. »Komische Bande, Stuart. Keiner unter fünfzig, keiner trägt einen Ehering. Karrieretypen, untere Schiene.«
Ungefähr eine halbe Stunde vor der Landung hatte Norm Bruett eine Art Ohnmachtsanfall, und Lila Bruett fing an zu kreischen. Zwei der groben Stewards wickelten Norm in eine Decke und brachten ihn ziemlich schnell wieder zu sich. Lila war nicht mehr ruhig zu bekommen und schrie weiter. Nach einer Weile kotzte sie die Grasshoppers und das Geflügelsalatsandwich, das sie gegessen hatte, wieder aus. Mit ausdruckslosen Gesichtern machten sich zwei der alten Kameraden daran, alles aufzuwischen.
»Was hat das zu bedeuten?« kreischte Lila. »Was ist mit meinem Mann los? Müssen wir sterben? Müssen meine Babies sterben?«
Sie hatte unter jedem Arm eins der »Babies« im Schwitzkasten, die Köpfe an die gewaltigen Brüste gedrückt. Luke und Bobby sahen ängstlich und unwohl aus, und das Gezeter ihrer Mutter schien ihnen peinlich zu sein. »Warum antwortet mir niemand? Sind wir nicht in Amerika?«