Wie lange mochte es gedauert haben, bis der Hunger ihn gezwungen hatte, seinen Zufluchtsort wieder zu verlassen? Larry wußte es nicht, und er wollte es auch gar nicht wissen. Aber er hatte gesehen, wie mager der Wolfsmann gewesen war. Eine Woche vielleicht. Wer immer er sein mochte, er war auf dem Weg in den Westen gewesen, um sich dem dunklen Mann anzuschließen, aber Larry hätte niemandem ein so entsetzliches Schicksal gewünscht. Zwei Tage nachdem sie aus dem Tunnel herausgekommen waren und den Wolfsmann weit hinter sich gelassen hatten, hatte er Stu darauf angesprochen.
»Warum sollte ein Rudel Wölfe sich dort so lange aufgehalten haben, Stu?«
»Das weiß ich nicht.«
»Ich meine, wenn sie was zu fressen gesucht haben, hätten sie es doch leicht finden können.«
»Ja, das meine ich auch.«
Die ganze Sache war für ihn ein schreckliches dunkles Rätsel, und er dachte immer wieder darüber nach, wenn er auch wußte, daß er die Lösung nie finden würde. Wer immer der Wolfsmann war, an Mumm hatte es ihm nicht gefehlt. Zuletzt hatte er, von Hunger und Durst getrieben, die Beifahrertür geöffnet. Einer der Wölfe hatte ihn angesprungen und ihm die Kehle aufgerissen, aber im Sterben hatte er das Tier noch erwürgt.
Sie waren alle vier angeseilt durch den Tunnel gegangen, und in der entsetzlichen Dunkelheit hatte Larry an seinen Weg durch den Lincoln Tunnel denken müssen. Aber jetzt verfolgte ihn nicht mehr Rita Blakemoores Bild, sondern das Gesicht des Wolfsmannes, zu einem letzten Schrei verzerrt, als der Wolf und er sich gegenseitig töteten.
Waren die Wölfe geschickt worden, um den Mann umzubringen?
Aber dieser Gedanke war zu beunruhigend, als daß er ihn auch nur in Erwägung ziehen mochte. Er versuchte, die ganze Geschichte zu verdrängen und einfach weiterzugehen, immer weiter. Aber es war verdammt schwer.
An diesem Abend schlugen sie kurz hinter Loma, ziemlich nahe an der Grenze zu Utah, ihr Lager auf. Das Abendbrot bestand aus eßbaren Pflanzen und abgekochtem Wasser, wie alle ihre Mahlzeiten - sie befolgten Mutter Abagails Anweisungen aufs Wort.
»In Utah wird es schlimm werden«, meinte Ralph. »Dort werden wir feststellen, ob Gott tatsächlich über uns wacht. Auf einer Strecke von mehr als hundert Meilen liegt keine einzige Stadt. Dort gibt es nicht mal ein Cafe oder eine Tankstelle.« Diese Aussichten schienen ihn jedoch nicht sonderlich zu beunruhigen.
»Und Wasser?« fragte Stu.
Ralph zuckte die Achseln. »Damit sieht's auch beschissen aus. Ich glaube, ich leg' mich jetzt aufs Ohr.«
Larry tat es ihm gleich. Glen blieb noch wach und rauchte eine Pfeife. Stu hatte noch ein paar Zigaretten und beschloß, sich eine davon anzuzünden. Schweigend rauchten sie eine Weile.
»Wir sind weit weg von New Hampshire, Platte«, sagte Stu endlich.
»Auch Texas ist nicht gerade in Rufweite.«
Stu lächelte. »Nein. Nein, wirklich nicht.«
»Du vermißt Fran sehr, nehme ich an.«
»Ja. Ich vermiss' sie, mach' mir Sorgen um sie. Mach' mir Sorgen um das Baby. Nachts ist es besonders schlimm.«
Glen zog an seiner Pfeife. »Du kannst nichts daran ändern, Stuart.«
»Das weiß ich. Aber ich mache mir Sorgen.«
»Natürlich.« Glen klopfte seine Pfeife an einem Stein aus. »Gestern nacht ist was Komisches passiert, Stu. Ich habe mir den ganzen Tag überlegt, ob es Traum oder Wirklichkeit war.«
»Was war es denn?«
»Na ja, ich wachte nachts auf, und Kojak knurrte irgend etwas an. Es muß nach Mitternacht gewesen sein, denn das Feuer war schon fast aus. Kojak stand auf der anderen Seite, knurrte wie verrückt, und seine Nackenhaare sträubten sich. Ich sagte ihm, er solle ruhig sein, aber er hat mich nicht mal angeguckt, hat rechts an mir vorbeigeschaut. Ich dachte: Wenn es nun Wölfe sind?Seit ich den Mann gesehen habe, den Larry den Wolfsmann nennt...«
»Ja, war 'ne schlimme Sache.«
»Aber da war nichts. Ich hatte gute Sicht. Kojak knurrte nichts an.«
»Er hat irgend etwas gewittert, das ist alles.«
»Ja, aber das Verrückte kommt erst noch. Nach ein paar Minuten hatte ich so ein Gefühl... es war unheimlich, kann ich dir sagen. Ich hatte das Gefühl, da ist irgend etwas auf der gegenüberliegenden Seite der Straßenböschung und beobachtet mich. Beobachtet uns alle. Ich hatte fast das Gefühl, es sehen zu können. Daß ich es sehen würde, wenn ich nur genau hinschaute. Aber das wollte ich nicht. Weil ich das Gefühl hatte, daß er es war.«
»Weil du das Gefühl hattest, daß es Flagg war, Glen. Wahrscheinlich war es nichts«, sagte Stu nach einer Weile.
»Es hat sich jedenfalls nach etwas angefühlt. Auch Kojak hat es gespürt.«
»Gut, nehmen wir an, er hatuns irgendwie beobachtet. Was hätten wir tun können?«
»Nichts. Aber es gefällt mir nicht. Mir gefällt der Gedanke nicht, dass er uns beobachten kann... wenn es so gewesen ist. Er macht mich krank.«
Stu rauchte seine Zigarette zu Ende und drückte sie sorgfältig an einem Felsbrocken aus, machte aber noch keine Anstalten, zu seinem Schlafsack zu gehen. Er blickte zu Kojak hinüber, der am Feuer lag und sie beäugte, den Kopf auf die Vorderpfoten gebettet.
»Harold ist also tot«, sagte Stu schließlich.
»Ja.«
»Ein sinnloses Scheißspiel, der Tod von Sue und Nick. Und auch Harolds Tod, würde ich sagen.«
»Da hast du recht.«
Es gab nichts mehr zu sagen. Am Tag, nachdem sie durch den Eisenhower Tunnel gekommen waren, hatten sie Harold und seine jämmerlichen letzten Aufzeichnungen gefunden. Er und Nadine mußten über den Loveland Paß gefahren sein, denn Harold hatte sein Triumph-Motorrad bei sich - oder das, was von ihm übriggeblieben war -, und wie Ralph gesagt hatte, es wäre unmöglich gewesen, etwas Größeres als ein Kinderauto durch den Tunnel zu schaffen. Die Bussarde hatten sich schon ausgiebig mit Harold beschäftigt, aber das Notizbuch lag noch fest in seiner verkrampften Hand. Die Pistole Kaliber 3 8 steckte in seinem Mund wie ein grotesker Dauerlutscher. Sie hatten Harold nicht begraben, aber Stu hatte ihm vorsichtig die Pistole aus dem Mund gezogen. Als Stu sah, wie endgültig der dunkle Mann Harold vernichtet und wie achtlos er ihn beiseite geworfen hatte, nachdem Harold die ihm zugedachte Rolle gespielt hatte, haßte er Flagg nur noch mehr. Er hatte das Gefühl, als würden sie alle sich auf einer Art sinnlosem Kinderkreuzzug opfern. Harolds Leiche mit dem zerschmetterten Bein verfolgte ihn genauso, wie das verzerrte Gesicht des Wolfsmannes Larry verfolgte. Jetzt wollte er es Flagg nicht nur für Nick und Susan, sondern auch für Harold heimzahlen... aber er kam immer mehr zu der Überzeugung, daß er nie die Gelegenheit dazu bekommen würde.
Aber paß nur auf, dachte er zornig. Paß nur auf, wenn ich so nahe an dich herankomme, daß ich dich erwürgen kann, du Ungeheuer.
Mit einem leisen Seufzer stand Glen auf. »Ich gehe schlafen, OstTexaner. Sag bloß nicht, daß ich noch aufbleiben soll. Es ist wirklich eine langweilige Party.«
»Was macht die Arthritis?«
Glen lächelte. »Es geht einigermaßen«, sagte er, aber als er zu seinem zusammengerollten Bettzeug hinüberging, humpelte er. Stu gedachte, keine weitere Zigarette mehr zu rauchen - selbst wenn er nur zwei oder drei am Tag rauchte, würden seine Vorräte Ende der Woche erschöpft sein -, aber dann zündete er sich doch noch eine an. Der Abend war nicht übermäßig kalt, aber dennoch war zu erkennen, daß in diesem hochgelegenen Landstrich der Sommer endgültig vorbei war. Das machte ihn traurig, denn er hatte das starke Gefühl, daß er nie wieder einen Sommer erleben würde. Als dieser Sommer anfing, war er Gelegenheitsarbeiter in einer Fabrik gewesen, die Taschenrechner herstellte. Er hatte in einem kleinen Kaff namens Arnette gelebt und einen großen Teil seiner Freizeit damit verbracht, in Bill Hapscombs Texaco-Tankstelle herumzuhängen und den anderen zuzuhören, wenn sie ihren Blödsinn über die Regierung und die Wirtschaft und die schlechten Zeiten von sich gaben. Stu glaubte nicht, daß nur einer von ihnen gewußt hatte, was wirklich schlechte Zeiten waren. Er rauchte seine Zigarette zu Ende und warf sie ins Feuer.