Larry hatte gerade aufgehört zu sprechen, und die anderen warteten gespannt auf Stus Kommentar.
Er sagte nur ein Wort: »Nein.«
»Stu«, sagte Glen leise, »du verstehst nicht...«
»Ich verstehe. Ich sage nein. Keine Fahrt zurück nach Green River. Kein Seil. Kein Wagen. Das wäre gegen die Spielregeln.«
»Dies ist kein Spiel!« rief Larry. »Du würdest hier sterben!«
»Und ihr werdet höchstwahrscheinlich drüben in Nevada sterben. Und jetzt macht, daß ihr weiterkommt. Ihr habt noch vier Stunden Tageslicht. Es gibt keinen Grund, hier rumzutrödeln.«
»Wir werden dich hier nicht allein lassen«, sagte Larry.
»Genau das werdet ihr tun. Ich befehle es euch.«
»Nein. Ich habe jetzt das Kommando übernommen. Mutter hat gesagt, wenn dir etwas passiert...«
»...dann sollt ihr weitermachen.«
»Nein. Nein.« Larry blickte hilfesuchend Glen und Ralph an. Sie standen bekümmert da. Kojak saß in der Nähe, den Schwanz um die Pfoten geringelt, und beobachtete die vier.
»Hör zu, Larry«, sagte Stu. »Dieser ganze Ausflug basiert auf der Annahme, daß die alte Dame wußte, worüber sie redete. Wenn du das in Zweifel ziehst, setzt du alles aufs Spiel.«
»Ja, das stimmt«, sagte Ralph.
»Nein, das stimmt nicht, du Bauernlümmel«, sagte Larry, indem er wütend Ralphs breiten Oklahoma-Akzent nachahmte. »Es war nicht Gottes Wille, daß Stu hier abstürzen sollte. Nicht einmal der dunkle Mann hat etwas damit zu tun. Es war nur loser Dreck, weiter nichts, nur loser Dreck! Ich lasse dich hier nicht allein, Stu. Nie wieder lasse ich Menschen allein.«
»Doch. Wir werden ihn hier zurücklassen«, sagte Glen ruhig. Larry sah ihn ungläubig an, als wäre er gerade verraten und verkauft worden. »Und ich dachte, du bist sein Freund.«
»Das bin ich auch. Aber das spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.«
Larry lachte hysterisch und ging ein paar Schritte durc h den Schlamm. »Du bist verrückt! Weißt du das?«
»Nein, das bin ich nicht. Wir haben eine Vereinbarung getroffen. Wir standen um Mutter Abagails Totenbett herum und waren alle einverstanden. Das bedeutete mit ziemlicher Sicherheit unseren Tod, und das wußten wir. Wir haben alles genau verstanden, und jetzt werden wir uns an diese Vereinbarung halten.«
»Das will ich ja auch, verdammt noch mal!« rief Larry. »Ich meine, wir müssen ja nicht nach Green River laufen. Wir könnten uns einen Kombi besorgen, laden ihn ein und fahren weiter...«
»Wir sollen zu Fuß gehen«, sagte Ralph. Er zeigte auf Stu. »Er kann nicht gehen.«
»Richtig. Gut. Er hat sich das Bein gebrochen. Und was schlägst du vor? Sollen wir ihn wie ein Pferd erschießen?«
»Larry...«, setzte Stu an.
Bevor er noch ein Wort sagen konnte, packte Glen Larry am Hemd und riß ihn zu sich heran. »Wen versuchst du zu retten?« Seine Stimme war kalt und streng. »Stu oder dich selbst?«
Larry sah ihn an. Seine Mundwinkel zuckten.
»Es ist ganz einfach«, sagte Glen. »Wir können nicht bleiben... und er kann nicht gehen.«
»Ich weigere mich, das zu akzeptieren«, flüsterte Larry. Er war totenblaß.
»Es ist eine Prüfung«, sagte Ralph plötzlich. »Genau das ist es.«
»Vielleicht wird hier geprüft, ob du noch normal bist«, meinte Larry.
»Stimmt ab«, sagte Stu. »Ich bin dafür, daß ihr geht.«
»Ich auch«, sagte Ralph. »Es tut mir so leid, Stu. Aber wenn Gott über uns wacht, wird er vielleicht auch über dich wachen...«
»Ich kann es nicht«, sagte Larry.
»Du denkst überhaupt nicht an Stu«, sagte Glen. »Ich glaube, du versuchst irgend etwas in dir selbst zu retten. Aber diesmal, Larry, ist es richtig, jemanden allein zu lassen. Wir müssen es tun.«
Larry rieb sich langsam mit dem Handrücken über den Mund.
»Laßt uns wenigstens heute nacht hier bleiben«, sagte Larry. »Laßt uns noch einmal über alles nachdenken.«
»Nein«, sagte Stu.
Ralph nickte. Er wechselte einen Blick mit Glen, und dann holte Glen wieder seine Flasche mit »Arthritispillen« aus der Tasche und drückte sie Stu in die Hand. »Sie sind auf Morphiumbasis«, sagte er.
»Mehr als drei oder vier wirken wahrscheinlich tödlich.« Er sah Stu fest an. »Hast du kapiert, Ost-Texaner?«
»Ich weiß, was du meinst«, sagte Stu.
»Wovon redest du?« schrie Larry mit schriller Stimme. »Was, zum Teufel, willst du damit andeuten?«
»Weißt du das nicht?« fragte Ralph, und in seinem Tonfall lag so viel Verachtung, daß Larry eine Weile schwieg. Dann stand ihm plötzlich alles wieder vor Augen, mit alptraumhafter Geschwindigkeit, wie man von einem rasenden Karussell aus die Gesichter von Fremden vorüberziehen sieht: Tabletten, aufputschende und beruhigende. Rita, die tot und steif in ihrem Schlafsack liegt und aus deren Mund grünes Erbrochenes quillt, wie ein widerlicher Party-Scherz.
» Nein!« schrie er und versuchte, Stu die Flasche zu entreißen. Ralph packte ihn an der Schulter, und Larry wehrte sich.
»Laß ihn los«, sagte Stu. »Ich will mit ihm reden.« Ralph hielt ihn immer noch fest und sah Stu unsicher an. »Komm, laß ihn schon los.«
Ralph gehorchte, war aber bereit, sofort wieder zuzupacken.
»Komm her, Larry«, sagte Stu. »Setz dich mal hin.«
Larry ging zu ihm hinüber und hockte sich neben ihn. Er sah Stu kläglich an. »Das ist doch nicht richtig, Mann. Wenn jemand stürzt und sich das Bein bricht, dann... kann man doch nicht einfach weggehen und ihn sterben lassen. Weißt du das denn nicht? He, Mann...« Er berührte Stus Gesicht. »Bitte, denk doch mal nach.«
Stu nahm Larrys Hand und hielt sie fest. »Hältst du mich für verrückt?«
»Nein! Nein, aber...«
»Und findest du nicht auch, daß Leute, die bei Verstand sind, selbst entscheiden sollten, was sie tun wollen?«
»Oh, Mann«, sagte Larry und fing an zu weinen.
»Larry, du bist nicht betroffen. Ich will, daß du mit den anderen weitergehst. Wenn du je wieder aus Vegas zurückkommst, dann komm hier vorbei. Vielleicht schickt Gott mir einen Raben, der mich füttert. Das weiß man nicht. Ich habe mal in der Sonntagsbeilage gelesen, daß ein Mensch siebzig Tage lang ohne Nahrung auskommen kann, wenn er nur Wasser hat.«
»Schon lange vorher wird es hier Winter. Dann wirst du in drei Tagen an Unterkühlung gestorben sein, selbst wenn du nicht diese Pillen nimmst.«
»Das ist nicht deine Sache. Du hast damit nichts zu tun.«
»Schick mich nicht weg, Stu.«
»Ich schicke dich weg«, sagte Stu energisch.
»Was für eine Scheiße«, sagte Larry und stand auf. »Was wird Fran zu uns sagen, wenn sie erfährt, daß wir dich hier für die Ratten und die Bussarde liegengelassen haben?«
»Sie wird überhaupt nichts sagen, wenn du nicht nach drüben gehst und ihm die Fresse polierst. Auch Lucy nicht. Oder Dick Ellis. Oder Brad. Oder sonst jemand.«
»Okay«, sagte Larry. »Wir werden gehen. Aber erst morgen. Heute nacht werden wir hier unser Lager aufschlagen, und vielleicht haben wir einen Traum... irgend etwas...«
»Keine Träume«, sagte Stu leise. »Keine Zeichen. So funktioniert es nicht. Ihr würdet eine Nacht lang bleiben, und es passiert nichts, und dann würdet ihr noch eine Nacht bleiben wollen, dann noch eine... ihr müßt sofort weiter.«
Mit gesenktem Kopf ging Larry zur Seite und drehte den anderen den Rücken zu. »Okay«, sagte er schließlich, und er sprach so leise, daß seine Worte kaum zu verstehen waren. »Wir tun, was du sagst. Gott möge unseren Seelen gnädig sein.«