»Was ist das, Ratty?«
»Der Rattenmann weiß es nicht, mein Schatz, aber der Rattenmann kann es sich denken. Ja, das kann er. Das wird schwarze Arbeit morgen, sehr schwarz. Willst du nicht mal schnell mit Ratty ins Gebüsch, mein Schatz?«
»Ja, aber nur, wenn du mir sagst, was das hier soll.«
»Morgen weiß es ganz Las Vegas«, sagte Ratty. »Darauf kannst du deinen süßen kleinen Hintern wetten. Komm mit dem Rattenmann, mein Schatz, und er zeigt dir die neuntausend Namen Gottes.«
Aber zum großen Mißvergnügen des Rattenmannes war Julie inzwischen verschwunden.
Als Lloyd endlich einschlief, war die Arbeit getan, und die Menge hatte sich zerstreut. Auf den Ladeflächen der Lastwagen standen zwei große Käfige. Rechts und links hatten die beiden Käfige je zwei quadratische Löcher. In der Nähe standen vier Autos mit Anhängerkupplungen. An jeder Kupplung war eine Kette befestigt, die sich über den Rasen schlängelte und in einem der quadratischen Löcher an den Käfigen endete. Am Ende jeder Kette hing eine einzelne Handschelle.
Als am 30. September der Morgen dämmerte, hörte Larry das Tor am anderen Ende des Zellentrakts zurückgleiten. Rasch näherten sich Schritte. Larry lag auf seiner Pritsche, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Er hatte in der vergangenen Nacht nicht geschlafen. Er hatte
(nachgedacht? gebetet?)
Es war gleichgültig. Was immer er getan hatte, die alte Wunde in ihm hatte sich geschlossen und störte seinen Frieden nicht mehr. Er hatte gespürt, daß die beiden Menschen, die er sein Leben lang gewesen war - die wirkliche Person und die Idealgestalt - sich zu einem einzigen Menschen verbunden hatten. Dieser Larry hätte seiner Mutter gefallen. Und Rita Blakemoor. Es war ein Larry, dem Wayne Stukey nie hätte erzählen müssen, was Sache ist. Es war ein Larry, den selbst jene längst vergessene Oralhygienikerin gemocht hätte.
Ich werde sterben. Wenn es einen Gott gibt - und inzwischen glaube ich, daß es ihn geben muß -, dann ist es sein Wille. Wir werden alle sterben, und irgendwie wird unser Tod all dem hier ein Ende machen.
Er hatte den Verdacht, daß Glen Bateman schon gestorben war. Am Tag zuvor war im anderen Flügel geschossen worden. Sehr viel geschossen. Es war wohl aus dem Trakt gekommen, in den sie Glen geführt hatten, und nicht aus Ralphs Trakt. Er erinnerte sich noch an die Richtung. Nun, Glen war schon alt gewesen, und die Arthritis hatte ihn geplagt, und was Flagg ihnen für heute morgen zugedacht hatte, konnte nur sehr unangenehm sein.
Die Schritte hatten seine Zelle erreicht.
»Steh auf, du Wunderkind«, rief eine fröhliche Stimme. »Der Rattenmann ist gekommen, um dir deinen blassen Arsch aufzureißen.«
Larry drehte sich um. Ein schwarzer Pirat mit einer Kette aus Silberdollars um den Hals stand vor seiner Zellentür, einen gezogenen Säbel in der Hand. Hinter ihm stand der bebrillte Buchhaltertyp. Er hieß Burlson.
»Was ist los?« fragte Larry.
»Lieber Mann«, sagte der Pirat. »Dies ist das Ende. Das endgültige Ende.«
»Also gut«, sagte Larry und stand auf.
Burlson sprach schnell, und Larry merkte, daß er Angst hatte. »Ich möchte Ihnen noch sagen, daß dies nicht meine Idee war.«
»Wie alles andere hier auch, soweit ich das sehen kann«, sagte Larry. »Wer wurde gestern getötet?«
»Bateman«, sagte Burlson und senkte den Blick. »Er wollte fliehen.«
»Versucht zu fliehen«, murmelte Larry. Er fing an zu lachen. Der Rattenmann lachte mit, lachte ihn aus. Sie lachten gemeinsam. Die Zellentür öffnete sich. Burlson trat mit Handschellen auf Larry zu, und Larry leistete keinen Widerstand. Er hielt nur die Hände hin. Burlson legte ihm die Stahlfesseln an.
»...versucht zu fliehen«, sagte Larry. »Eines Tages wirst du erschossen, wenn du versuchst zu fliehen, Burlson.« Sein Blick zuckte hinüber zum Piraten. »Du auch, Ratty. Ihr werdet einfach auf der Flucht erschossen.« Er fing wieder an zu lachen, aber diesmal lachte der Rattenmann nicht mit. Er blickte Larry düster an und hob den Säbel.
»Nimm das Ding runter, du Arschloch«, sagte Burlson. Sie verließen hintereinander die Zelle. Burlson zuerst, dann Larry, hinter ihm der Rattenmann. Als sie durch die Tür am Ende des Zellentrakts gingen, trafen sie auf fünf andere Männer. Einer von ihnen war Ralph, der ebenfalls Handschellen trug.
»He, Larry«, sagte Ralph trübselig. »Hast du schon gehört? Haben sie es dir gesagt?«
»Ja. Hab's gehört.«
»Diese Schweine. Dabei sind sie fast am Ende, stimmt's?«
»Ja. Stimmt.«
»Hört auf zu quasseln!« knurrte einer der Männer. »Ihr seid fast am Ende. Ihr werdet gleich sehen, was euch erwartet. O Mann, das wird vielleicht 'ne Party!«
»Nein, es ist vorbei«, sagte Ralph beharrlich. »Wißt ihr das nicht? Spürt ihr das nicht?«
Der Rattenmann stieß Ralph, so daß er stolperte. »Halt's Maul!« rief er. »Der Rattenmann will diesen beschissenen faulen Zauber nicht mehr hören.«
»Du bist schrecklich blaß, Ratty«, sagte Larry grinsend. »Schrecklich blaß. Jetzt bist du es, der aussieht wie ranziges Fleisch.«
Der Rattenmann fuchtelte wieder mit dem Säbel, aber diesmal war es keine Drohgebärde. Er sah aus, als ob er Angst hätte. Alle sahen so aus. Es lag etwas Seltsames in der Luft, ein Gefühl, daß sie alle im Schatten eines großen Ereignisses standen, das bald eintreten würde.
Ein olivgrüner Transporter mit der Aufschrift LAS VEGAS COUNTY JAIL an der Seite stand auf dem von der Sonne beschienenen Hof. Larry und Ralph wurden in den Wagen gestoßen. Die Türen wurden zugeschlagen, der Motor wurde angelassen, und die Fahrt ging los.
Sie saßen auf den harten Holzbänken, die mit Handschellen gefesselten Hände zwischen den Knien.
»Ich habe gehört, daß alle Einwohner von Las Vegas kommen werden«, sagte Ralph mit gesenkter Stimme. »Glaubst du, daß sie uns kreuzigen wollen, Larry?«
»Das oder etwas Ähnliches.« Er betrachtete den großen kräftigen Mann. Ralphs schweißgetränkter Hut saß ihm fest auf dem Kopf. Die Feder war zerfetzt und verblichen, aber sie ragte immer noch trotzig aus dem Hutband heraus.
»Hast du Angst, Ralph?«
»Fürchterliche Angst«, sagte Ralph. »Ich konnte noch nie Schmerzen aushalten. Ich hatte sogar Schiß, zum Arzt zu gehen, wenn ich eine Spritze bekommen sollte. Ich wünschte, mir fiele was ein, damit sie die Sache aufschieben. Und was ist mit dir?«
»Ich habe auch Angst. Setz dich doch neben mich.«
Ralph stand auf, und seine Handschellen klirrten. Er setzte sich neben Larry. Eine Weile saßen sie schweigend da. Dann sagte Ralph leise: »Wir haben uns ganz schön lange gemeinsam durchgeschlagen.«
»Das stimmt.«
»Ich möchte bloß wissen, wozu. Er will mit uns eine Show veranstalten. Damit jeder sieht, daß er immer noch der große Boss ist. Haben wir nur deshalb den weiten Weg gemacht?«
»Ich weiß es nicht.«
Sie schwiegen wieder. Nur das Dröhnen des Motors unterbrach die Stille. Ohne zu sprechen, saßen sie auf der Bank und hielten sich bei den Händen. Larry hatte zwar Angst, aber das Gefühl, mit sich ins reine gekommen zu sein, blieb unerschütterlich.
»Ich fürchte mich nicht vor dem Bösen«, murmelte er, aber er hatte Angst. Er schloß die Augen, dachte an Lucy. Er dac hte an seine Mutter. Flüchtige Gedanken. Wie er an manch kaltem Morgen aufgestanden war, um sich für die Schule fertig zu machen. Wie er sich mal in der Kirche übergeben hatte. Wie er im Rinnstein ein Pornoheft gefunden und sich gemeinsam mit Rudy die Bilder angesehen hatte; sie beide mußten damals etwa neun Jahre alt gewesen sein. Wie er im ersten Frühling, den er in L. A. verbrachte, mit Yvonne Wetterlin die Baseball-Meisterschaft angeschaut hatte. Er wollte nicht sterben, er hatte Angst zu sterben, aber er hatte seinen Frieden mit sich selbst gemacht, so gut er konnte. Sein Weg ging hier zu Ende, aber er hatte diesen Weg nicht bestimmt, und er war zu der Überzeugung gelangt, daß der Tod nichts weiter war als ein Raum hinter der Bühne, wo man auf einen neuen Auftritt wartet, ja, ein Ort des Wartens, an dem man sich aufhält, bis die Show weitergeht.