Er versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben, sich zu sammeln. Sich bereit zu machen.
Der Wagen hielt an, und die Türen wurden aufgerissen. Helles Sonnenlicht fiel herein, und er und Ralph blinzelten. Der Rattenmann und Burlson sprangen zu ihnen in den Wagen. Zusammen mit den Sonnenstrahlen drang ein leiseres, rauschendes Murmeln in das Wageninnere, und Ralph hob mißtrauisch den Kopf. Aber Larry kannte das Geräusch.
1981 hatten die Tattered Remnants ihren größten Auftritt gehabt - sie spielten im Vorprogramm vor dem Auftritt von Van Haien und Chavez Ravine. Und das Geräusch, das sie vor ihrem Auftritt hörten, war genau wie dieses. Als er jetzt aus dem Wagen sprang, wußte er genau, was er erwarten konnte, und er verzog keine Miene, obwohl er Ralphs leises Keuchen neben sich hörte.
Sie standen auf dem Rasen eines riesigen Hotel-Casinos. Der Eingang war von zwei goldenen Pyramiden flankiert. Auf dem Rasen standen zwei Lastwagen mit einer glatten Ladefläche. Auf jeder dieser Ladeflächen stand ein aus Stahlrohren errichteter Käfig. Um sie herum eine Menschenmenge.
Die Leute bildeten einen großen Kreis um die Lastwagen. Sie standen auf dem Parkplatz des Hotels und auf den Eingangsstufen oder an der Auffahrt, wo früher die Gäste geparkt hatten, während der Portier einen Hotelpagen herbeipfiff. Auch auf der Straße selbst standen Leute. Einige der jüngeren Männer hatten ihre Freundinnen auf die Schultern genommen, damit sie besser sehen konnten. Das Fest konnte beginnen. Die Menschenmenge war wie ein großes Tier, und das leise Gemurmel war der Laut dieses Tieres. Larry schaute sich unter der Menge um, aber wenn ihn ein Blick traf, sah der Betreffende rasch weg. Die Gesichter wirkten blaß, abweisend, vom Tod gezeichnet, und die Leute schienen es zu wissen. Dennoch waren sie hier.
Er und Ralph wurden zu den Käfigen geführt, und Larry sah die Ketten an den Anhängerkupplungen der Wagen. Aber Ralph erkannte als erster ihren Zweck. Schließlich hatte er den größten Teil seines Lebens mit und an Maschinen verbracht.
»Larry«, sagte er heiser. »Sie wollen uns in Stücke reißen!«
»Rein mit euch«, sagte der Rattenmann und blies ihm stinkenden Knoblauchatem ins Gesicht. »Du auch, Wunderknabe. Du und dein Kumpel, ihr macht jetzt 'ne Spazierfahrt.«
Larry stieg auf die Ladefläche.
»Gib mir dein Hemd, Wunderknabe.«
Larry zog sein Hemd aus und stand mit nacktem Oberkörper in der angenehm kühlen Morgenluft. Auch Ralph hatte sein Hemd schon ausgezogen. Das Gemurmel der Menge schwoll an und verstummte wieder. Während des langen Fußmarsches waren sie beide abgemagert, und ihre Rippen waren deutlich zu sehen.
»In den Käfig, Jammerlappen.«
Larry ging rückwärts in den Käfig.
Jetzt gab Barry Dorgan die Befehle. Er ging von einer Ecke zur anderen und überprüfte die Vorrichtungen. In seinem Gesicht spiegelten sich Ekel und Widerwillen.
Die vier Fahrer stiegen in die Wagen und starteten die Motoren. Ralph stand einen Augenblick wie abwesend da. Dann ergriff er eine der angeschmiedeten Handschellen, die in seinen Käfig hineinhingen, und warf sie durch das Loch nach draußen. Sie traf Paul Burlson am Kopf, und ein Raunen ging durch die Menge.
»Tu das lieber nicht noch mal. Ich schicke gleich ein paar Leute rauf, damit sie dich festhalten.«
»Sollen sie doch tun, was sie vorhaben«, sagte Larry zu Ralph. Er blickte zu Dorgan hinunter. »He, Barry. Haben sie dir das bei der Polizei in Santa Monica beigebracht?«
In der Menge wurde gelacht. »Dein Freund und Helfer!« rief ein besonders Mutiger. Dorgan wurde rot, sagte aber nichts. Er schob die Kette ein Stück weiter in Larrys Käfig hinein, und Larry spuckte darauf. Er war selbst erstaunt, daß er noch genug Speichel hatte. Von hinten waren aus der Menge leise Jubelrufe zu hören. Vielleicht kommt es jetzt, dachte Larry. Vielleicht versuchen sie einen Aufstand...
Aber in seinem Herzen glaubte er es nicht. Ihre Gesichter waren zu blaß, zu verschlossen. Die trotzigen Rufe von hinten waren ohne Bedeutung - übermütige junge Leute. Es gab Zweifel - das spürte er -, und es gab Unzufriedenheit. Aber auch das nahm Flagg in Kauf. Diese Leute würden sich mitten in der Nacht davonstehlen, um irgendwo in dem riesigen leeren Raum zu verschwinden, zu dem die Welt geworden war. Und der Wandelnde Geck würde sie ziehen lassen, denn er wußte, daß er nur einen harten Kern brauchte, Leute wie Dorgan und Burlson. Die Deserteure und die mitternächtlichen Davonschleicher konnte man später wieder einfangen, vielleicht, um sie für ihren Mangel an Glauben zu bestrafen. Eine offene Rebellion würde es hier nicht geben.
Dorgan, der Rattenmann und ein dritter Mann traten jetzt in seinen Käfig. Der Rattenmann hatte die an die Ketten geschweißten Handschellen in der Hand, um sie Larry anzulegen.
»Geben Sie die Arme her«, sagte Dorgan.
»Ist Recht und Ordnung nicht eine feine Sache, Barry?«
»Her mit den Armen, verdammt noch mal!«
»Du siehst nicht gut aus, Dorgan - wie geht's deinem Herzen in letzter Zeit?«
»Ich sage es Ihnen zum letzten Mal, mein Freund. Schieben Sie die Hände durch diese Löcher!«
Larry tat es. Sie legten ihm die Fesseln an und drehten den Schlüssel um. Larry blickte nach rechts und sah Ralph in seinem Käfig stehen. Er hielt den Kopf gesenkt und ließ die Arme hängen. Auch ihn hatten sie schon an die Ketten angeschlossen.
»Ihr alle wißt, daß dies ein Verbrechen ist!« rief Larry, und seine durch jahrelanges Singen geübte Stimme hallte überraschend laut und klar über den Platz. »Ich erwarte von euch nicht, daß ihr es verhindert, aber ich erwarte, daß ihr immer daran denkt! Wir werden hier hingerichtet, weil Randall Flagg Angst vor uns hat! Vor uns und den Leuten, von denen wir kommen!« Ein Raunen lief durch die Menge, wurde lauter und lauter. »Vergeßt nicht, auf welche Weise wir gestorben sind! Und denkt daran, daß eines Tages vielleicht auch ihr auf diese Weise sterben werdet, ohne Würde und wie ein Tier im Käfig!«
Wieder ein Raunen, das anschwoll und aus dem Wut herauszuhören war... und dann Stille.
»Larry!« rief Ralph.
Flagg kam die Eingangstreppe des Grand Hotels herunter, und neben ihm erschien Lloyd Henreid. Flagg trug Jeans, ein kariertes Hemd, seine Jeansjacke mit den zwei Ansteckern auf der Tasche und seine abgelaufenen Cowboystiefel. In der plötzlichen Stille war das Klappern der Absätze auf dem Betonpfad das einzige Geräusch. Der dunkle Mann grinste.
Larry starrte auf ihn nieder. Flagg blieb zwischen beiden Käfigen stehen und blickte zu ihm auf. Sein Grinsen war von einem düsteren Charme. Er hatte sich vollständig unter Kontrolle, und Larry wußte plötzlich, daß dies der entscheidende Moment war, die Apotheose seines Lebens.
Flagg wandte sich von ihnen ab und trat vor sein Volk. »Lloyd«, sagte er leise, und Lloyd, der blaß und krank aussah, reichte Flagg ein Papier, das wie ein Pergament zusammengerollt war. Der dunkle Mann entrollte es und fing an zu sprechen. Er hatte eine tiefe, sonore und angenehme Stimme, die durch die Stille drang, wie eine kleine silbrige Welle über einen dunklen Teich läuft. »Hiermit verkünde ich, daß dies ein gültiges Urteil ist, das ich, Randall Flagg, am dreißigsten September neunzehnhundertneunzig, nunmehr das Jahr eins nach der Seuche, mit meinem Namen unterzeichnet habe.«
»Du heißt nicht Flagg!« brüllte Ralph. In der Menge entstand entsetztes Geraune. »Warum nennst du ihnen nicht deinen richtigen Namen?«
Flagg überging den Zwischenruf. »Hiermit verkünde ich, daß diese Männer, Lawson Underwood und Ralph Brentner, Spione sind, die in böser Absicht und um Aufruhr zu schüren nach Las Vegas gekommen sind und sich heimlich und im Schutz der Dunkelheit in diese Stadt geschlichen haben...«
»Das ist sehr gut«, sagte Larry, »zumal wir am hellichten Tag über die Route 70 gekommen sind.« Er hob die Stimme zu einem Brüllen.
»Sie haben uns auf der Interstate festgenommen! Nennt man das heimlich und im Schutz der Dunkelheit?«
Auch diesen Einwurf ertrug Flagg geduldig, als spürte er, daß Ralph und Larry das Recht hatten, sich zu den Vorwürfen zu äußern... wenn es auch an der Situation nichts änderte.