Tom stieg aus und stemmte sich gegen den Türrahmen. Der Plymouth rollte an. Als die Nadel fünf Meilen in der Stunde anzeigte, sagte Stu: »Spring rein,Tom.«
Tom hüpfte auf seinen Sitz und schlug die Tür zu. Stu drehte den Zündschlüssel auf »AN« und wartete. Das Lenken kostete Energie, besonders bei abgestelltem Motor, und es kostete Stu fast die letzten Kräfte, die Nase des Plymouth geradeaus gerichtet zu halten, während der Wagen an Geschwindigkeit gewann. Die Tachonadel kroch auf 10, 15, 20. Lautlos rollten sie den Hügel hinunter, auf den Tom ihn am Morgen in stundenlanger Mühsal hinaufgeschleppt hatte. Stu fiel zu spät ein, daß sie den Schleppschlitten zurückgelassen hatten. 25 Meilen die Stunde.
»Er läuft nicht, Stu«, sagte Tom besorgt.
30 Meilen. Schnell genug. »Jetzt bete zu Gott«, sagte Stu und liess die Kupplung kommen. Der Plymouth bockte und ruckte. Der Motor sprang hustend an, stotterte, spuckte, verstummte. Stu stöhnte auf. Aus Verzweiflung und weil ihm ein rasender Schmerz durch das zerschmetterte Bein fuhr.
»Verdammt - spring an!« brüllte er und trat auf die Kupplung.
»Beweg das Gaspedal auf und ab, Tom! Mit der Hand!«
»Welches ist es denn?« rief Tom mit ängstlicher Stimme.
»Das lange!«
Tom rutschte auf den Wagenboden und drückte zweimal das Gaspedal. Der Wagen nahm wieder Tempo auf, und Stu mußte sich zwingen, noch etwas zu warten. Sie hatten schon die Hälfte des Hanges zurückgelegt.
» Jetzt!« schrie er und ließ die Kupplung kommen.
Der Motor des Plymouth sprang brüllend an. Kojak bellte. Schwarzer Qualm kochte aus dem verrosteten Auspuff und wurde dann blau. Aber der Motor lief. Ein wenig unruhig zwar und nur auf sechs Zylindern, aber sie fuhren. Stu schaltete in den dritten Gang und bediente dabei beide Pedale mit dem linken Fuß.
»Wir fahren, Tom!« brüllte er. »Wir haben jetzt wieder Räder!«
Tom schrie vor Vergnügen. Kojak bellte und wedelte mit dem Schwanz. In seinem früheren Leben, dem Leben vor Captain Trips, als er noch Big Steve hieß, war er oft im Wagen seines Herrchens mitgefahren. Es war schön, wieder zu fahren, auch mit seinem neuen Herrchen.
Sie erreichten eine U-förmige Verbindung zwischen den Fahrspuren, die nach Westen und denen, die nach Osten führten. NUR FÜR DIENSTFAHRZEUGE herrschte ein Schild sie an. Stu kam gut genug mit der Kupplung zurecht, um den Wagen um die Kurve zu bringen. Es gab nur einen schrecklichen Augenblick, als der Wagen bockte und Stu fast den Motor abgewürgt hätte. Aber die Maschine war schon warmgelaufen, und er schaffte es. Er schaltete wieder in den dritten Gang, und die Spannung wich. Er atmete immer noch schwer, und sein Puls raste bedrohlich, aber er würde sich bald beruhigen. Für einen Moment drohte ihm wieder, schwarz vor Augen zu werden, aber er ließ es nicht zu. Ein paar Minuten später entdeckte Tom den hellen orangefarbenen Schlafsack, den sie für Stu als behelfsmäßigen Schleppschlitten hergerichtet hatten.
»Bye-bye!« rief Tom gutgelaunt. »Bye-bye, wir fahren nach Boulder, meine Fresse, ja!«
Für heute abend wäre ich schon mit Green River zufrieden,dachte Stu.
Sie erreichten Green River kurz nach Einbruch der Dunkelheit. Stu fuhr den Plymouth in einem niedrigen Gang vorsichtig durch die dunklen Straßen, in denen viele verlassene Wagen standen. Er parkte an der Main Street vor einem Gebäude, das sich als Utah Hotel ausgab. Es war ein schäbiges dreistöckiges Bauwerk, und Stu glaubte nicht, daß das Waldorf-Astoria diese Konkurrenz fürchten mußte. Sein Kopf fing wieder an zu dröhnen, und immer wieder entglitt ihm die Wirklichkeit. Während der letzten zwanzig Meilen hatte er manchmal das Gefühl gehabt, der Wagen sei voller Leute. Fran. Nick Andres. Norm Bruett. Und einmal hatte er geglaubt, Chris Ortega, den Barkeeper des Indian Head in Arnette, auf einer Schrotflinte vorbeireiten zu sehen.
Müde. War er schon jemals so müde gewesen?
»Da drinnen«, murmelte er. »Wir müssen hier übernachten, Nicky. Ich bin völlig fertig.«
»Ich bin Tom, Stu. Tom Cullen. Meine Fresse, ja.«
»Ja, Tom. Wir müssen hier anhalten. Kannst du mir ins Haus helfen?«
»Klar. Toll, wie du den alten Wagen in Gang gebracht hast.«
»Du kannst mir 'n Bier drauf ausgeben«, sagte Stu. »Und hast du nicht eine Zigarette? Für 'ne Kippe würde ich sterben.« Er sank am Steuer zusammen.
Tom zog ihn vorsichtig aus dem Wagen und trug ihn ins Hotel. Das Foyer war feucht und dunkel, aber es gab einen Kamin, und neben dem Kamin stand eine halb mit Holz gefüllte Kiste. Tom setzte Stu auf ein fadenscheiniges Sofa und bereitete Holz für ein Feuer vor, während Kojak an allen möglichen Gegenständen herumschnüffelte. Stus Atem ging langsam und rauh, und er murmelte gelegentlich vor sich hin. Manchmal schrie er laut irgend etwas Unsinniges, daß Tom das Blut gefror.
Er zündete ein riesiges Feuer an und blickte sich um. Er fand Kissen und Wolldecken für sich und Stu. Dann schob Tom das Sofa, auf dem Stu lag, näher an das Feuer heran und legte sich neben ihn. Kojak kuschelte sich auf Stus andere Seite, so daß die beiden den kranken Mann mit ihren Körpern wärmten.
Tom lag wach und blickte zur Decke aus verschnörkeltem Zinn hinauf, in deren Ecken Spinnweben hingen. Stu war sehr krank. Dieser Gedanke machte ihm große Sorgen. Wenn Stu wieder aufwachte, würde er ihn fragen, was er gegen die Krankheit tun konnte.
Aber wenn... wenn er nicht mehr aufwachte?
Draußen war starker Wind aufgekommen, der um die Ecken des Hotels heulte. Gegen Mitternacht, als Tom eingeschlafen war, hatte sich die Temperatur um weitere vier Grad verringert, und das Klatschen draußen ließ einen Hagelschauer vermuten. Weit drüben im Westen trieben die äußeren Ränder des Sturms eine gewaltige radioaktive Wolke nach Kalifornien, wo weitere Menschen sterben würden.
Irgendwann nach zwei Uhr morgens hob Kojak den Kopf und jaulte unruhig. Tom Cullen stand auf. Seine Augen waren groß und leer. Wieder jaulte Kojak, aber Tom beachtete ihn nicht. Er ging an die Tür und trat in die tobende Nacht hinaus. Kojak ging an eines der Fenster des Foyers, sprang mit den Vorderpfoten hoch und äugte nach außen. Er hielt eine ganze Weile Ausschau, und aus seiner Kehle kamen tiefe, traurige Laute. Dann trottete er zurück zur Couch und legte sich wieder neben Stu.
Draußen tobte und heulte der Wind.
75
»Ich wäre fast gestorben, weißt du«, sagte Nick. Er und Tom gingen auf dem leeren Bürgersteig. Der Wind heulte ohne Unterbrechung; als ob ein endloser Geisterzug über ihnen durch den schwarzen Himmel raste. Es war unheimlich. Wenn Tom wach gewesen wäre, wäre er davongelaufen. Aber er war nicht wach - jedenfalls nicht richtig -, und Nick war bei ihm. Hagelkörner trafen sein Gesicht.
»Wirklich?« fragte Tom. »Meine Fresse!«
Nick lachte. Seine Stimme war tief und melodisch. Eine angenehme Stimme. Tom hörte ihr gern zu. »Wirklich. Die Grippe hat mich nicht gekriegt, aber ein kleiner Kratzer am Bein hätte mich fast umgebracht. Sieh dir das an.«
Als ob er die Kälte nicht spürte, öffnete Nick seinen Gürtel und schob die Jeans nach unten. Tom beugte sich vor, neugierig wie ein kleiner Junge, dem jemand eine Warze zeigt, aus der Haare sprießen, oder eine interessante Wunde oder ähnliches. Über Nicks Bein zog sich eine häßliche rote Narbe, die fast verheilt war. Sie begann dicht unterhalb der Leiste und verlief spiralig das Bein hinunter, am Knie vorbei und bis zur Mitte des Schienbeins.
»Und das hätte dich fast umgebracht?«
Nick zog seine Jeans wieder hoch und schnallte den Gürtel zu. »Die Wunde war nicht tief, aber sie entzündete sich. Das bedeutet, es kamen böse Bazillen in die Wunde. Infektionen sind das Schlimmste, was es gibt, Tom. Durch Infektion sind fast alle Menschen am Supergrippe-Bazillus gestorben. Und es war auch eine Infektion, die die Leute dazu getrieben hat, den Bazillus zu machen. Es war eine Infektion des Geistes.«
»Infektion«, flüsterte Tom fasziniert. Sie gingen weiter, schwebten fast über den Bürgersteig.