»Tom! Tommy!«
Kojak brach durch die Schneeoberfläche. Er sah aus, als wäre er von Kopf bis Schwanz mit Puderzucker bestäubt worden. Er wühlte sich in Richtung Stu durch den Schnee.
»Kojak!« brüllte Stu. »Such Tom! Such Tom!«
Kojak bellte und versuchte, sich wieder in Gegenrichtung voranzukämpfen. Er hielt auf eine zerwühlte Stelle am verschneiten Hang zu und bellte wieder. Schwankend, stürzend, Schnee schluckend erreichte schließlich auch Stu diese Stelle. Er wühlte in der weißen Masse herum. Seine behandschuhte Rechte bekam Toms Jacke zu fassen, und Stu zerrte mit aller Kraft daran, zog Tom hervor. Tom würgte und keuchte, und beide stürzten erschöpft auf den Rücken und blieben liegen. Tom begann zu wimmern.
»Meine Kehle! So heiß! Heiß! Meine Fresse, ach du meine Fresse...«
»Ist die Kälte, Tom. Das geht vorbei.«
»Tom wäre fast ersti...«
»Jetzt ist alles in Ordnung, Tom. Jetzt wird alles wieder gut.«
Sie blieben liegen, bis sie halbwegs zu Atem gekommen waren. Dann legte Stu Tom den Arm um die Schultern, um den großen Kerl zu beruhigen, das Zittern zu stillen. Ein Stück entfernt ging mit dumpfem Rumoren, das bedrohlich anschwoll und dann allmählich verklang, eine weitere Lawine nieder.
Sie brauchten den Rest dieses Tages, um die dreiviertel Meile zwischen dem Unfallort und der Stadt Avon zurückzulegen. Es gab keine Möglichkeit, das Schneemobil oder einen der Ausrüstungsgegenstände zu bergen, die daran festgezurrt waren; der Hang war einfach zu steil und zu gefährlich. Das Schneemobil würde mindestens bis zum Frühjahr bleiben, wo es war - vielleicht auch für immer, so, wie die Dinge jetzt lagen.
Sie erreichten die Stadt eine halbe Stunde nach Einbruch der Dämmerung. Es war zu kalt und zu windig, als daß sie irgend etwas anderes hätten unternehmen können, als ein Feuer zu entfachen, um einen halbwegs warmen Platz für die Nacht zu haben. Ihr Schlaf war traumlos - der Schlaf der völligen Erschöpfung. Am folgenden Morgen beschäftigten sie sich damit, sich neu auszurüsten. In der Kleinstadt Avon war dies eine weit schwierigere Aufgabe als seinerzeit in Grand Junction. Wieder erwog Stu die Möglichkeit, einfach hier zu bleiben und zu überwintern. Hätte er Tom gesagt, dies sei das richtige - Tom hätte erst gar keine Fragen gestellt. Zu deutlich hatte die gestrige Lektion gelehrt, was Leuten passieren kann, die ihr Glück herausfordern. Aber letztendlich verwarf Stu den Gedanken, in Avon zu bleiben. Das Baby würde, wenn alles gutging, Anfang Januar geboren werden. Er wollte an Ort und Stelle sein, wenn es zur Welt kam. Er wollte sich mit eigenen Augen davon überzeugen, daß mit dem Baby alles in Ordnung war. Am Ende von Avons kurzer Hauptstraße stießen sie auf eine JohnDeere-Niederlassung, und in der Werkstatt hinter dem Ausstellungsraum fanden sie zwei gebrauchte Deere -Schneemobile. Keines von beiden war zwar annähernd so leistungsstark wie die Maschine des Highway Department, die Stu von der Straße gelenkt hatte, aber eine der beiden hatte eine besonders breite Spurweite, und Stu glaubte, daß sie ihren Zweck erfüllen würde. Nahrungskonzentrate fanden sie nicht, also mußten sie sich wieder auf Konserven verlegen. Die zweite Tageshälfte verbrachten sie damit, Häuser auf der Suche nach Campingausrüstungen zu durchstöbern, eine Arbeit, die keinem von beiden schmeckte. Überall fanden sich Opfer der Seuche; Leichen, die sich in verweste, grotesk deformierte Schaustücke einer Eishöhle verwandelt hatten. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit fanden sie das meiste von dem, was sie den Tag über vergeblich gesucht hatten, in einer großen Ferienpension in unmittelbarer Nähe der Hauptstraße. Bevor die Supergrippe zugeschlagen hatte, war die Pension offensichtlich bis auf den letzten Platz von jungen Leuten belegt gewesen - jener Sorte junger Leute, die nach Colorado kamen, um all die Dinge zu tun, die John Denver zu besingen pflegte. Allerdings fand Tom in einem versteckten Winkel unter der Treppe eine große grüne PlastikAbfalltüte, die mit einer Spielart von »Rocky Mountain High« gefüllt war, die eine durchschlagende Wirkung haben mußte.
»Was ist das? Ist es Tabak, Stu?«
Stu grinste. »Na ja, das haben vermutlich so einige andere Leute auch gedacht. Es ist Narrenkraut, Tom. Leg's dorthin zurück, wo du's gefunden hast.«
Sie beluden sorgfältig das Schneemobil, verstauten die Konserven, schnürten neue Schlafsäcke und Zeltbahnen an das Fahrzeug. Inzwischen leuchteten die ersten Sterne auf, und sie beschlossen, noch eine weitere Nacht in Avon zu verbringen.
Während sie langsam über den verharschten Schnee zum Haus fuhren, in dem sie ihr Quartier aufgeschlagen hatten, kam Stu eine ziemlich verblüffende Erkenntnis: morgen war Heiligabend. Es erschien ihm unglaublich, daß die Zeit so schnell vergangen war, aber ein Blick auf die Datumsanzeige seiner Armbanduhr bestätigte dies. Sie hatten Grand Junction vor mehr als drei Wochen verlassen. Als sie das Haus erreichten, sagte Stu: »Geh du schon mal mit Kojak rein und mach ein Feuer an. Ich habe noch eine kleine Besorgung zu machen.«
»Was ist es denn, Stu?«
»Na ja, es soll eine Überraschung sein«, sagte Stu.
»Überraschung? Werde ich erfahren, was es ist?«
»Ja.«
»Wann?« Toms Augen leuchteten auf.
»In ein paar Tagen.«
»Ein paar Tage kann Tom Cullen nicht auf eine Überraschung warten, meine Fresse, nein.«
»Tom Cullen wird's aber müssen«, sagte Stu grinsend. »In einer Stunde bin ich zurück.«
»Tja... okay.«
Es dauerte länger als anderthalb Stunden, bis Stu genau das gefunden hatte, was er suchte. Nach seiner Rückkehr versuchte Tom ihn auszuquetschen, aber Stu hielt den Mund, und als sie sich schließlich zur Ruhe begaben, hatte Tom die Geschichte bereits völlig vergessen.
Als sie in der Dunkelheit lagen, sagte Stu: »Ich wette, jetzt wünschst du dir, wir wären in Grand Junction geblieben, was?«
»Meine Fresse, nein«, antwortete Tom schläfrig. »Ich möchte so schnell ich kann zu meinem kleinen Haus zurück, nichts weiter. Ich hoffe nur, wir kommen nicht noch mal von der Straße ab und fallen in den Schnee. Tom Cullen wäre fast erstickt!«
»Wir müssen einfach langsamer fahren und uns mehr Mühe geben«, sagte Stu und verschwieg wohlweislich, was wahrscheinlich mit ihnen passierte, fallses noch einmal passierte... zu Fuß konnten sie dann keinen Zufluchtsort mehr erreichen.
»Wann glaubst du, kommen wir an, Stu?«
»Es wird noch ein Weilchen dauern, alter Quälgeist. Aber wir werden ankommen. Und ich glaube, jetzt sollten wir besser schlafen, nicht wahr?«
»Glaub' ich auch.«
Stu löschte das Licht.
In dieser Nacht träumte er, daß Frannie und ihr gräßliches Wolfskind bei der Geburt gestorben seien. Aus weiter Ferne hörte er George Richardson sagen: Es ist die Grippe. Wegen der Grippe wird es keine Babys mehr geben. Schwangerschaft ist Tod, wegen der Grippe. Ein Huhn in jeden Topf und ein Wolf in jede Gebärmutter. Wegen der Grippe. Wir sind erledigt. Die ganze Menschheit ist erledigt. Wegen der Grippe.
Und von irgendwoher, sehr viel näher, schloß sich an diese Worte das heulende Gelächter des dunklen Mannes an.
Am Heiligen Abend begann eine Zeit des schnellen, ungestörten Vorankommens, die fast bis zum Neuen Jahr andauern sollte. Die Schneedecke war in der Kälte verharscht. Der Wind wirbelte Wolken von Eiskristallen darüber hinweg und häufte sie zu kleinen, pulverigen, fischgrätenartigen Dünen auf, die das John-DeereSchneemobil mühelos durchschnitt. Stu und Tom trugen Sonnenbrillen zum Schutz gegen Schneeblindheit.
Heiligabend kampierten sie nach ihrer ersten Tagesetappe vierundzwanzig Meilen östlich von Avon, in der Nähe von Silverstone. Sie hatten jetzt den Zugang zum Loveland-Paß erreicht, und der verstopfte, begrabene Eisenhower Tunnel lag irgendwo im Osten tief unter ihnen. Während sie warteten, bis ihr Abendessen aufgewärmt war, machte Stu eine überraschende Entdeckung. Als er, um sich die Zeit zu vertreiben, mit einer Axt die verharschte Schneedecke aufschlug und mit der Hand den pulvrigen Schnee darunter hervorwühlte, ertastete er genau an der Stelle, an der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, in Armestiefe eine glatte Metalloberfläche. Fast hätte er Tom auf seine Entdeckung aufmerksam gemacht, doch er ließ es bleiben. Es war ein höchst unbehaglicher Gedanke, daß sie weniger als einen halben Meter über einer Stelle lagerten, unter der sich ein Fahrzeugstau befand... weniger als einen halben Meter über Gott weiß wie vielen Leichen.