Als Tom am Morgen des Fünfundzwanzigsten um halb sieben erwachte, war Stu schon auf und machte Frühstück. Das war erstaunlich, denn sonst erwachte Tom immer zuerst. Über dem Feuer hing ein Topf mit Campbell's Gemüsesuppe, der gerade anfing zu brodeln. Kojak beobachtete den Topf mit großer Begeisterung.
»Guten Morgen, Stu«, sagte Tom, zog sich die Jacke zu und kroch aus seinem Schlafsack.
»Morgen«, antwortete Stu beiläufig. »Und ein frohes Weihnachtsfest.«
»Weihnachtsfest?« Tom sah ihn an und vergaß ganz, daß er so dringend pinkeln mußte. » Weihnachten?« sagte er noch einmal.
»Weihnachtsmorgen.« Er zeigte mit dem Daumen zu einer Stelle links von Tom. »Was Besseres konnte ich nicht auftreiben.«
In der Schneekruste steckte die etwa sechzig Zentimeter hohe Spitze einer Tanne. Sie war mit kleinen silberglänzenden Eiszapfen geschmückt. Stu hatte sie im Hinterzimmer des Avon Five and Ten gefunden.
»Ein Baum«, flüsterte Tom ehrfurchtsvoll. »Und Geschenke. Das sind doch Geschenke, nicht wahr, Stu?«
Im Schnee unter dem Baum lagen drei Pakete, alle in hellblaues Seidenpapier mit silbernen Hochzeitsglocken eingewickelt - Weihnachtspapier hatte er im Five and Ten nicht gefunden, nicht einmal im Hinterzimmer.
»Ganz richtig, das sind Geschenke. Für dich. Ich nehme an, sie sind vom Weihnachtsmann.«
Tom sah Stu böse an. »Tom Cullen weiß, daß es keinen Weihnachtsmann gibt! Meine Fresse, nein! Sie sind von dir!« Er sah jetzt bekümmert aus. »Und ich hab' überhaupt nichts für dich! Ich hab' es vergessen... ich wußte nicht, daß Weihnachten ist... ich bin dumm! Dumm!« Er ballte die Faust und schlug sich vor die Stirn. Er war den Tränen nahe.
Stu hockte sich neben ihn in den Schnee. »Tom«, sagte er. »Du hast mir dein Weihnachtsgeschenk doch schon vorher gegeben.«
»Nein, Sir, hab' ich nicht. Hab' ich vergessen. Tom Cullen ist ein Dummkopf. M-O-N-D, und das buchstabiert man Dummkopf.«
»Bist du nicht. Du hast mir das allerschönste Weihnachtsgeschenk gemacht. Ich lebe noch. Und das habe ich dir zu verdanken.«
Tom sah ihn verständnislos an.
»Wenn du nicht rechtzeitig gekommen wärst, hätte ich an dem unterspülten Straßenstück westlich von Green River sterben müssen. Und wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich im Utah Hotel an Lungenentzündung oder Grippe oder was es auch immer war sterben müssen. Ich weiß nicht, wie du die richtigen Pillen gefunden hast... ob es Nick war oder Gott oder ganz einfach Glück, aber du hast sie gefunden. Du bist ja verrückt, dich einen Dummkopf zu nennen. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich dieses Weihnachtsfest nie erlebt. Ich bin tief in deiner Schuld.«
»Ach, das ist doch nicht dasselbe«, sagte Tom, aber er strahlte über das ganze Gesicht.
»Es ist dasselbe«, sagte Stu ernst.
»Aber...«
»Komm, mach deine Geschenke auf. Schau nach, was er dir gebracht hat. Ich habe doch mitten in der Nacht seinen Schlitten gehört. Ich denke, bis zum Nordpol ist die Grippe nicht gekommen.«
»Du hast ihn gehört?« Tom sah Stu mißtrauisch an, um zu sehen, ob er ihn auch nicht anschwindelte.
»Irgend etwas habe ich gehört.«
Tom nahm das erste Paket und wickelte es sorgfältig aus - ein batteriebetriebener kleiner Spielautomat, von der Art, wie ihn sich die meisten Kinder schon im vergangenen Jahr zu Weihnachten gewünscht hatten. Er war in eine Plastikfolie eingeschweißt. Toms Augen leuchteten, als er ihn sah.
»Schalt ihn an«, sagte Stu.
»Nein, ich will erst sehen, was ich sonst noch gekriegt habe.«
Es war ein Sweatshirt mit einem völlig erschöpften Skiläufer auf krummen Skiern, der sich auf seine Skistöcke stützt.
»Darunter steht ICH WAR AUF DEM LOVELAND PASS«, erklärte Stu. »So weit sind wir zwar noch nicht, aber ich glaube, wir werden's schaffen.«
Tom zog sofort seinen Parka aus, streifte das Sweatshirt über und zog den Parka wieder an.
»Toll! Wirklich toll, Stu!«
Das letzte Paket war das kleinste. Es enthielt einen schlichten Silberanhänger an einer feinen Gliederkette aus Silber. Tom kam die Figur vor wie eine liegende Acht. Er hielt sie hoch und betrachtete sie erstaunt.
»Was ist das, Stu?«
»Es ist ein griechisches Symbol. Das weiß ich noch aus irgendeiner Fernsehsendung. Es bedeutet Unendlichkeit, Tom. Immer und ewig.« Er streckte den Arm nach Tom aus und nahm die Hand, die die Figur hielt. »Ich glaube, wir werden Boulder erreichen, Tommy. Ich glaube, das war uns von Anfang an bestimmt. Ich möchte gern, daß du es trägst, wenn es dir nichts ausmacht. Und wenn du irgendwann etwas brauchst und nicht weißt, wen du fragen sollst, dann schau dieses Symbol an und denk an Stuart Redman. Okay?«
»Unendlichkeit«, sagte Tom und drehte die Figur in der Hand.
»Immer und ewig.«
Er hängte sich die Kette um den Hals.
»Ich werde daran denken«, sagte er. »Tom Cullen wird daran denken.«
»Scheiße! Das hätte ich doch fast vergessen!« Stu griff in seinen Schlafsack und holte noch ein Paket hervor. »Frohes Weihnachtsfest, Kojak! Ich will es mal für dich aufmachen.« Er entfernte das Papier, und ein Karton HartzMountain-Hundekuchen kam zum Vorschein. Er warf eine Handvoll in den Schnee, und Kojak verschlang sie mit Heißhunger. Dann stellte er sich vor Stu und wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz.
»Später gibt's mehr«, sagte Stu. »Lerne endlich Manieren, bei allem, was du tust, wie der alte Glatzkopf gesagt... gesagt hätte.« Er merkte, wie seine Stimme brüchig wurde und ihm Tränen in die Augen traten. Plötzlich vermißte er Glen, vermißte Larry, vermißte Ralph mit seinem Federhut. Plötzlich vermißte er sie alle, sie alle, die gestorben waren, vermißte sie schrecklich. Mutter Abagail hatte gesagt, sie würden durch Ströme von Blut waten, bis alles vorüber sei, und sie hatte recht gehabt. In seinem Herzen verfluchte und segnete Stuart Redman sie gleichzeitig.
»Stu? Ist alles in Ordnung?«
»Ja, Tommy, alles klar.« Plötzlich umarmte er Tom heftig, und Tom erwiderte die Umarmung. »Frohe Weihnachten, du alter Klotz.«
Zögernd sagte Tom: »Darf ich noch singen, bevor wir gehen?«
»Gern, wenn du möchtest.« Stu erwartete »Jingle B ells« oder »Frosty the Snowman« und eine Kinderstimme, die zaghaft und falsch sang. Aber was kam, waren Teile aus »The First Noel«, die Tom mit einer überraschend klaren Tenorstimme sang.
» The first Noel«, klang Toms Stimme über die weiße Einöde und kam als schönes Echo zurück, » the angels did say... was to certain poor shepherds in fields as they lay ...In fields ...as they... lay keeping their sheep... on a cold winter's night that was so deep...«
Stu fiel in Toms Gesang ein. Seine Stimme war nicht so gut wie Toms, aber trotzdem klang ihr gemeinsamer Gesang angenehm, und die schöne alte Hymne stieg in die tiefe Kathedralenstille des Weihnachtsmorgens auf:
» Noel, Noel, Noel, Noel... Christ is born in Israel...«
»Das ist die einzige Strophe, die ich noch weiß«, sagte Tom ein wenig schuldbewußt, als ihre Stimmen verhallten.
»Es war schön«, sagte Stu. Er war wieder den Tränen nahe. Viel fehlte nicht, und er hätte geweint, aber das hätte Tom aus der Fassung gebracht. Stu drängte die Tränen zurück.
»Wir sollten langsam aufbrechen. Es bleibt um diese Jahreszeit nicht so lange hell.«
»Ja.« Er sah Stu an, der sich am Fahrzeug zu schaffen machte. »So ein schönes Weihnachten habe ich noch nie erlebt, Stu.«