»Ja.« Shirley war im Februar an einem Schlaganfall gestorben. Frannie nahm seine Hände. Ihre Augen strahlten. »Laß uns das Risiko eingehen und unser Leben so leben, wie es uns gefällt.«
»Ja, Fran. Das hört sich gut an. Das hört sich richtig gut an.«
»Ich liebe dich, Ost-Texaner.«
»Ich dich auch, Fran.«
Peter fing wieder an zu weinen.
»Laß uns nachsehen, was unserem kleinen Tyrannen fehlt.« Frannie stand auf und wischte sich ein paar Grashalme von der Hose.
»Er ist beim Krabbeln auf die Nase gefallen«, sagte Lucy und reichte ihn Fran. »Armes Baby.«
»Armes Baby«, sagte auch Fran und drückte ihn an sich. Er lehnte seinen Kopf vertrauensvoll an Frans Schulter, blickte zu Stu auf und lächelte. Stu lächelte zurück.
»Hallo, Kleiner«, sagte er, und Peter lachte.
Lucy sah Frannie an, dann Stu, und dann wieder Frannie. »Ihr wollt gehen, habe ich recht?« sagte sie schließlich. »Du hast ihn dazu überredet.«
»Ich glaube, das hat sie«, sagte Stu. »Wir werden aber noch lange genug bleiben, um deinen Stammhalter zu begrüßen.«
»Das freut mich«, sagte Lucy.
In der Ferne fing eine Glocke an zu läuten, in kräftigen, klangvollen Tönen.
»Das Picknick fängt an«, sagte Lucy und stand auf. Sie tätschelte ihren gigantischen Bauch. »Hörst du das, Junior? Es gibt was zu essen. Au, nicht treten! Ich geh' ja schon.«
Stu und Fran standen auch auf. »Hier. Du nimmst den Jungen«, sagte Fran.
Peter war eingeschlafen. Die drei gingen gemeinsam zum Sunrise Amphitheater hinauf.
Dämmerung an einem Sommerabend
Als die Sonne unterging, saß sie auf der Veranda und schaute zu, wie Peter begeistert auf dem Hof im Sand herumkrabbelte. Stu sass in einem Rohrstuhl, dessen Sitz vom jahrelangen Gebrauch schon ganz ausgebeult war. Neben ihm zur Linken, im Schaukelstuhl, sass Fran. Im Hof zeichnete das letzte Tageslicht den Schatten des Schaukelreifens in den Sand.
»Hier hat sie lange gelebt, nicht wahr?« sagte Fran leise.
»Sehr, sehr lange«, sagte Stu und zeigte auf Peter. »Er macht sich unheimlich dreckig.«
»Hier gibt es Wasser. Sie hatte eine Handpumpe. Man muß sie nur bedienen. Sie hatte alles, was man braucht, Stuart.«
Er nickte und zog schweigend an seiner Pfeife. Peter sah sich um, um sich zu vergewissern, daß sie noch da waren.
»Hallo, Baby«, sagte Stu und winkte.
Peter fiel um und richtete sich wieder auf, um von neuem im Kreis herumzukriechen. Wo der Feldweg zwischen wildem Mais endete, stand ein kleiner Winnebago-Campingwagen mit einer Abschleppvorrichtung. Sie hielten sich zwar an Nebenstraßen, aber es kam doch ziemlich oft vor, daß sie einen Wagen aus dem Weg räumen mußten.
»Fühlst du dich einsam?« fragte Fran.
»Noch nicht. Vielleicht später.«
»Macht dir das Baby Sorgen?« Fran strich sich über ihren absolut flachen Bauch.
»Nein.«
»Es wird Peter auf die Nase hauen.«
»Dann wird Peter zurückhauen. Und Lucy hat Zwillinge.« Er lachte.
»Kannst du dir das vorstellen?«
»Ich habe sie gesehen. Und Sehen und Glauben, sagt man. Was glaubst du, wann wir in Maine sind, Stu?«
Er zuckte die Achseln. »Ende Juli vielleicht. Jedenfalls früh genug, um uns auf den Winter vorzubereiten. Hast du Angst?«
»Nein«, sagte sie und stand auf. »Sieh dir den Dreckspatz an.«
»Ich habe dich gewarnt.«
Er blickte ihr nach, wie sie die Verandastufen hinunterging und das Baby aufhob. Er saß dort, wo Mutter Abagail oft und lange gesessen hatte, und dachte an das Leben, das vor ihnen lag. Er glaubte, dass sie es richtig gemacht hatten. Irgendwann würden sie sicher nach Boulder zurückkehren. Wenn auch vielleicht nur, damit ihre Kinder Gleichaltrige kennenlernen, sich einen Partner suchen, heiraten und selbst Kinder zeugen konnten. Aber vielleicht würde Boulder auch zu ihnen kommen. Einige Leute hatten sich sehr genau nach ihren Plänen erkundigt, sie regelrecht ausgefragt... aber der Ausdruck in ihren Augen war nicht ärgerlich oder ablehnend gewesen, sondern sehnsüchtig. Stu und Fran waren offensichtlich nicht die einzigen Reiselustigen. Harry Dunbarton, der einstige Brillenverkäufer, hatte von Minnesota gesprochen, und Mark Zellman von Hawaii. Ausgerechnet. Er wollte fliegen lernen und nach Hawaii ziehen.
»Mark, du wirst dich umbringen!« hatte Fran geschimpft. Aber Mark hatte nur grinsend gesagt: »Ausgerechnet du sagst mir das, Fran?«
Und Stan Nogotny hatte nachdenklich erklärt, er würde am liebsten nach Süden gehen, vielleicht ein paar Jahre in Acapulco leben, dann vielleicht weiterziehen nach Peru. »Ich will dir mal was sagen, Stu«, hatte er gesagt, »alle diese Leute hier machen mich so nervös wie einen Einbeinigen in einem Arschtritt-Wettbewerb. Von einem Dutzend Leuten kenne ich kaum einen, und nachts verriegeln sie ihre Türen... das kannst du mir gern glauben, es ist eine Tatsache. Wer mich so reden hört, wird wohl kaum glauben, daß ich sechzehn Jahre lang in Miami gelebt habe. Natürlich habe ich da auch jede Nacht mein Haus verriegelt, aber das war eine Gewohnheit, die ich verdammt gern aufgegeben habe! Egal - es wird mir hier einfach zu eng. Ich denke viel an Acapulco. Wenn ich nur auch Janey davon überzeugen könnte...«
Es wäre sicher nicht das schlechteste, dachte Stu, während er Fran beim Wasserpumpen beobachtete, wenn die Freie Zone auseinanderfiele. Das würde auch Glen Bateman sagen, da war er ganz sicher. Sie hat ihren Zweck erfüllt, würde Glen sagen. Besser, sie löst sich auf, bevor...
Bevor was?
Ach ja, auf der letzten Versammlung des Komitees vor ihrer Abreise hatte Hugh Petrella verlangt, daß seine Hilfssheriffs bewaffnet würden, und er hatte die Ermächtigung dazu erhalten. Während ihrer letzten Woche in Boulder war es das Thema gewesen - und jeder hatte Partei ergriffen. In den ersten Junitagen war es zu einer Auseinandersetzung zwischen einem Betrunkenen und einem Hilfssheriff gekommen, und dabei war der Hilfssheriff durch das Spiegelglasfenster des Broken Drum, einer Bar in der Pearl Street, geflogen. Er brauchte danach eine Bluttransfusion und mußte mit mehr als dreißig Stichen wieder zusammengeflickt werden. Petrellas Argument war gewesen, daß die ganze Sache nie passiert wäre, wenn sein Mann den Betrunkenen mit einem Revolver hätte einschüchtern können. Und das war die Streitfrage, die heftig diskutiert wurde. Es gab eine Menge Leute (unter ihnen Stu, der allerdings seine Meinung meistens für sich behielt), die glaubten, daß es bei diesem Zwischenfall einen toten Trunkenbold statt eines verwundeten Hilfssheriffs gegeben hätte, wenn dieser bewaffnet gewesen wäre.
Was passiert, wenn man die Hilfssheriffs mit Waffen ausrüstet, hatte sich Stu gefragt. Wie geht es weiter? Und er hörte die dozierende, etwas trockene Stimme Glen Batemans antworten: Man muß ihnen bessere Waffen geben. Und Autos. Und wenn man unten in Chile eine Freizonengesellschaft entdeckt, oder oben in Kanada, dann macht man Hugh Petrella vorsichtshalber zum Verteidigungsminister, und vielleicht schickt man Suchtrupps aus, denn schließlich...
Das Zeug liegt ja frei herum, wartet nur darauf, aufgelesen zu werden.
»Wir müssen ihn zu Bett bringen«, sagte Fran, die mit dem Baby im Arm die Verandastufen hochstieg.
»Gut.«
»Was brütest du so finster vor dich hin?«
»Hab' ich das?«
»Ganz bestimmt.«
Er schob die Finger in die Mundwinkel und zog die Lippen zu einem Lächeln in die Breite. »Besser?«
»Viel besser. Hilf mir, ihn zu Bett zu bringen.«
»Es ist mir ein Vergnügen.«
Als er ihr in Mutter Abagails Haus folgte, dachte er, es würde besser sein, viel besser, wenn die Menschen hier sich trennten und sich zerstreuten. Organisation schien immer die Ursache des Problems zu sein. Wenn die Zellen sich zusammenklumpten und dunkel wurden. Man brauchte den Polizisten keine Waffen zu geben, solange die Polizisten sich an die Namen erinnern konnten ... an die Gesichter...