Mit federnden Schritten marschierte Sam auf die Scheune zu und freute sich auf Caitlin. Sein Kopf war inzwischen wieder ziemlich klar, dafür hatte nicht zuletzt der große Kaffee von Dunkin’ Donuts gesorgt, den er während der Fahrt getrunken hatte. Mit fünfzehn durfte er eigentlich noch nicht Auto fahren, aber er hatte nicht warten wollen, bis er alt genug war, um seinen Führerschein zu machen. Bisher war er noch nie von der Polizei angehalten worden. Und er konnte fahren. Warum sollte er also warten? Seine Freunde liehen ihm ihren Pick-up, fertig.
Als Sam sich der Scheune näherte, fragte er sich plötzlich, ob dieser Typ wohl bei ihr sein würde. Er hatte etwas an sich … das er nicht einordnen konnte. Waren die beiden zusammen? Caitlin hatte Sam immer alles erzählt. Wie kam es also, dass er noch nie von dem Typen gehört hatte?
Und warum stellte Caitlin auf einmal Fragen wegen Dad? Sam war sauer auf sich selbst, weil es tatsächlich Neuigkeiten gab, die er ihr gerne erzählt hätte. Endlich hatte er eine Antwort auf seine Nachforschungen über Facebook bekommen. Ihr Dad hatte sich gemeldet. Er schrieb, dass er sie vermisste und sie sehen wollte. Endlich. Nach all den Jahren. Sam hatte bereits zurückgeschrieben. Sie waren also wieder in Kontakt, und Dad wollte sie beide sehen. Warum hatte Sam ihr das nicht einfach erzählt? Nun, zumindest konnte er es ihr jetzt sagen.
Der Schnee knirschte unter seinen Stiefeln, der Schneefall wurde dichter, und auf einmal fühlte Sam sich glücklich. Vielleicht würde alles wieder gut werden, nun, da Caitlin hier war. Vielleicht war sie zum richtigen Zeitpunkt aufgetaucht, als er total fertig war – bestimmt würde sie ihm helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Sie hatte immer schon ein Händchen dafür gehabt, ihm aus der Patsche zu helfen. Vielleicht war das seine Chance.
Er wollte eine weitere Zigarette aus der Tasche ziehen, überlegte es sich jedoch anders. Vielleicht konnte er seinem Leben eine neue Richtung geben.
Er zerdrückte die Schachtel und warf sie ins Gras. Er brauchte die Zigaretten nicht. Er war stärker.
Voller Vorfreude öffnete er die Schuppentür. Er wollte Caitlin in den Arm nehmen und ihr sagen, dass es ihm leidtat. Ihr würde es ebenfalls leidtun, und alles wäre wieder gut.
Aber die Scheune war leer.
»Hallo?«, rief Sam, obwohl er schon wusste, dass niemand da war.
Sein Blick fiel auf die Asche in der Feuerstelle. Das Feuer musste schon vor Stunden gelöscht worden sein. Nirgendwo entdeckte er Habseligkeiten, die darauf hindeuteten, dass sie vielleicht noch in der Nähe war. Caitlin war fort. Wahrscheinlich war sie mit diesem Typen gegangen. Warum hatte sie nicht einfach auf ihn warten können? Warum hatte sie ihm keine Chance gegeben? Warum war sie nicht ein paar Stunden länger geblieben?
Sam fühlte sich, als hätte ihm jemand einen heftigen Schlag in die Magengrube versetzt. Seine eigene Schwester. Selbst ihr war er inzwischen gleichgültig.
Er musste sich setzen und ließ sich auf einen Heuballen sinken. Als er den Kopf auf den Händen aufstützte, merkte er, dass die Kopfschmerzen zurückkehrten. Sie war tatsächlich weg. War sie für immer gegangen? Tief in seinem Inneren spürte Sam, dass es so war.
Schließlich atmete er tief durch. Nun gut.
Jetzt war er also ganz auf sich allein gestellt. Damit konnte er umgehen. Er brauchte ohnehin niemanden.
»Hallo.«
Die Stimme war wunderschön, sanft und weiblich.
Einen Sekundenbruchteil lang hoffte Sam, dass es Caitlin wäre, auch wenn er sofort wusste, dass sie es nicht war. Noch nie hatte er so eine wunderschöne Stimme gehört.
Ein Mädchen stand im Eingang und lehnte lässig am Türrahmen. Wow. Sie sah umwerfend aus mit ihren langen, welligen roten Haaren und leuchtend grünen Augen. Ihr Körper war perfekt. Sie musste etwa in seinem Alter sein, vielleicht ein wenig älter. Wow. Sie rauchte.
Sam stand auf.
Er konnte es kaum glauben, aber sie sah ihn an, als wollte sie mit ihm flirten. Anscheinend stand sie auf ihn. Noch nie hatte ihn ein Mädchen auf diese Weise angesehen. Er konnte sein Glück kaum fassen.
»Ich bin Samantha«, sagte sie mit ihrer süßen Stimme, trat einen Schritt vor und streckte ihm die Hand entgegen.
Sam ging auf sie zu und gab ihr die Hand. Ihre Haut war ganz zart und weich.
Träumte er? Was machte dieses Mädchen hier mitten im Nirgendwo? Wie war sie überhaupt hergekommen? Er hatte kein Auto gehört, nicht einmal Schritte, die sich der Scheune genähert hatten. Und er war selbst eben erst gekommen. Er konnte es sich nicht erklären.
»Ich bin Sam«, sagte er.
Sie lächelte strahlend und enthüllte perfekte weiße Zähne. Ihr Lächeln war unglaublich. Als sie ihn direkt anblickte, spürte Sam, wie ihm die Knie weich wurden.
»Sam, Samantha«, meinte sie. »Das hört sich gut an.«
Er starrte sie an und fand keine Worte.
»Ich habe dich hier draußen gesehen und dachte mir, dass dir kalt sein muss«, erklärte sie. »Willst du hereinkommen?«
Sam zerbrach sich den Kopf, kam aber nicht dahinter, was sie meinte.
»Herein?«
»Ins Haus«, erläuterte sie und grinste, als würde das auf der Hand liegen. »Du weißt schon, so ein Ding mit Wänden und Fenstern.«
Sam versuchte zu begreifen, was sie gesagt hatte. Sie lud ihn ins Haus ein? In das Haus, das zum Verkauf stand? Warum sollte sie ihn dort hineinbitten?
»Ich habe es gerade gekauft«, sagte sie, als würde sie seine Gedanken beantworten. »Ich bin noch nicht dazu gekommen, das Zu-verkaufen-Schild abzunehmen«, fügte sie hinzu.
Sam war verwirrt. »Du hast dieses Haus gekauft?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich muss schließlich irgendwo wohnen. Ich werde die Oakville High besuchen, um mein letztes Schuljahr abzuschließen.«
Wow. Das erklärte alles.
Sie war auf der Highschool, in der Abschlussklasse. Vielleicht würde er es sich noch mal überlegen und doch an die Schule zurückkehren. Zum Teufel, ja. Wenn sie dort war, warum nicht?
»Ach so, klar«, sagte er so lässig, wie er konnte. »Warum nicht? Ich würde das Haus gerne mal von innen sehen.«
Sie drehten sich um und gingen auf das Haus zu. Unterwegs sah Sam die zerdrückte Zigarettenschachtel, bückte sich und hob sie auf. Wen interessierte es schon, ob er rauchte, nachdem Caitlin gegangen war?
»Dann bist du also neu hier?«, fragte Sam.
Ihm war klar, dass die Frage dämlich war. Das hatte sie ihm ja bereits erzählt. Aber er wusste nicht, was er sonst sagen sollte. Lockere Plauderei war noch nie seine Stärke gewesen.
Sie lächelte bloß. »So könnte man es ausdrücken.«
»Warum bist du ausgerechnet hierher gezogen?«, fügte Sam hinzu. »Ich meine, nichts für ungut, aber diese Stadt ist echt öde.«
»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete sie rätselhaft.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke.
»Warte mal, hast du eben gesagt, dass du das Haus gekauft hast? Du? Meinst du nicht deine Eltern?«
»Nein, ich meine mich. Mich allein«, erwiderte sie. »Ich habe es selbst gekauft.«
Er begriff es immer noch nicht. Auf die Gefahr hin, dass er sich wie ein Idiot anhörte – er musste die Sache einfach klären.
»Das Haus ist also nur für dich? Deine Eltern …«
»Meine Eltern sind tot«, unterbrach sie ihn. »Ich habe das Haus gekauft. Für mich. Ich bin jetzt achtzehn, ich bin erwachsen und kann tun, was ich will.«
»Wow«, sagte Sam ehrlich beeindruckt. »Das ist echt cool. Ein ganzes Haus für dich allein. Wow. Ich meine, das mit deinen Eltern tut mir leid, aber ich … ich kenne einfach sonst niemanden in unserem Alter, der ein Haus besitzt.«
Sie sah ihn an und lächelte. »Mit mir wirst du noch viele Überraschungen erleben.«