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»Das hast du«, sagte sie leise. Sie war gleichzeitig gerührt und verlegen.

»Ich bin der Spur der Blätter gefolgt, und das Komische daran war, dass … sie mich in diese Gasse geführt haben.«

Sie sah weiterhin auf ihr Buch und mied jeden Blickkontakt.

»Was glaubst du, wie dein Tagebuch dorthin gelangt ist?«, wollte er wissen.

Diesmal sah sie ihm in die Augen. Sie gab sich die größte Mühe, keine Miene zu verziehen.

»Als ich gestern Abend nach Hause gegangen bin, habe ich es irgendwo verloren. Vielleicht haben es ja diese Schläger gefunden.«

Er musterte sie nachdenklich. Schließlich meinte er: »Vielleicht.«

Schweigend standen sie sich gegenüber.

»Das Eigenartigste überhaupt ist«, fuhr er fort, »dass ich etwas gesehen habe, bevor ich völlig das Bewusstsein verlor. Und zwar hätte ich schwören können, dich gesehen zu haben, wie du über mir gestanden und diese Typen angeschrien hast, sie sollen mich in Ruhe lassen … Ist das nicht verrückt?«

Wieder betrachtete er sie genau, und sie erwiderte seinen Blick offen.

»Ich wäre ja ziemlich irre, wenn ich so etwas tun würde«, antwortete sie. Gegen ihren Willen hoben sich ihre Mundwinkel zu einem leichten Lächeln.

Und nach einer kurzen Pause verzog sich auch sein Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Ja«, erwiderte er, »das stimmt allerdings.«

4. Kapitel

Auf dem Heimweg von der Schule umklammerte sie ihr Tagebuch. Caitlin schwebte auf Wolke sieben. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so glücklich gewesen war. Immer wieder hörte sie Jonahs Worte in ihrem Kopf.

»Heute Abend ist ein Konzert in der Carnegie Hall. Ich habe zwei Freikarten. Es sind die schlechtesten Plätze im ganzen Saal, aber der Sänger soll fantastisch sein.«

»Heißt das, du willst mit mir ausgehen?«, hatte sie lächelnd geantwortet.

Er hatte ihr Lächeln erwidert. »Wenn es dir nichts ausmacht, mit einem Typen voller Blutergüsse auszugehen? Schließlich ist Freitagabend.«

Sie hüpfte praktisch nach Hause und konnte ihre Aufregung kaum kontrollieren. Sie verstand zwar nichts von klassischer Musik – eigentlich hatte sie sich noch nie richtig damit beschäftigt –, aber das war ihr egal. Mit ihm würde sie überallhin gehen.

Carnegie Hall. Er hatte gesagt, dass man sich schick machte, wenn man dorthin ging. Was sollte sie bloß anziehen? Sie hatte nicht mehr viel Zeit, um sich umzuziehen, weil sie sich vor dem Konzert in einem Café treffen wollten. Sie ging schneller.

Im Handumdrehen war sie zu Hause, und selbst das triste Gebäude konnte ihr die Laune nicht verderben. Sie sprang die Treppen in den fünften Stock hinauf und war noch nicht mal kaputt, als sie oben ankam.

Sofort hallten ihr die Schreie ihrer Mutter entgegen: »Du verdammtes Miststück!«

Caitlin duckte sich instinktiv, um dem Buch auszuweichen, das ihre Mutter ihr an den Kopf werfen wollte. Es verfehlte sie nur knapp und krachte gegen die Wand.

Noch bevor Caitlin überhaupt etwas sagen konnte, stürzte ihre Mutter sich mit ausgefahrenen Fingernägeln auf sie.

Caitlin erwischte ihre Handgelenke gerade noch rechtzeitig, und es kam zu einem heftigen Gerangel.

Die neue Kraft strömte durch Caitlins Adern, und sie wusste, dass sie ihre Mom ohne Weiteres hätte quer durch den Raum schleudern können. Doch sie zwang sich, die Kraft zu beherrschen, und stieß ihre Mom von sich, aber nur so fest, dass sie auf dem Sofa landete.

Dort brach ihre Mutter plötzlich in Tränen aus und blieb schluchzend sitzen.

»Das ist deine Schuld!«, schrie sie zwischen zwei Schluchzern.

»Wo ist denn los mit dir?«, brüllte Caitlin zurück. Sie war völlig unvorbereitet und hatte keine Ahnung, was eigentlich los war. Ein so verrücktes Verhalten war sogar für ihre Mutter ungewöhnlich.

»Sam.«

Ihre Mom hielt einen Zettel hoch.

Caitlins Herz hämmerte, als sie ihn nahm. Furcht erfasste sie. Was auch immer passiert war, es konnte nichts Gutes sein.

»Er ist weg!«

Caitlin überflog die handgeschriebene Notiz. Aber sie konnte sich nicht richtig konzentrieren und erfasste deshalb nur Bruchteile davon: haue ab … will nicht hierbleiben … zu meinen Freunden zurück … versucht nicht, mich zu finden.

Ihre Hände zitterten. Sam hatte es tatsächlich getan. Er war gegangen. Und er hatte nicht auf sie gewartet. Nicht einmal, um sich von ihr zu verabschieden.

»Du bist schuld!«, fauchte ihre Mom.

Caitlin konnte es einfach nicht glauben. Sie lief durch die Wohnung und öffnete Sams Tür, denn ein Teil von ihr rechnete damit, ihn in seinem Zimmer vorzufinden.

Aber der Raum war leer – und tadellos aufgeräumt. Er hatte nichts zurückgelassen. Sam hatte sein Zimmer nie sonderlich in Ordnung gehalten. Es stimmte also: Er war wirklich fort.

Caitlin spürte, wie ihr die Galle hochkam. Der Gedanke, dass ihre Mutter ausnahmsweise recht hatte, drängte sich ihr auf. Es war tatsächlich ihre Schuld. Sam hatte sie gefragt, und sie hatte bloß geantwortet: »Dann geh doch.«

Dann geh doch. Warum nur hatte sie das gesagt? Sie hatte vorgehabt, sich am nächsten Morgen zu entschuldigen und ihre Worte zurückzunehmen, aber als sie aufwachte, war er bereits fort gewesen. Sie hatte heute nach der Schule mit ihm reden wollen. Aber jetzt war es zu spät.

Sie wusste, wohin er wahrscheinlich wollte. Es gab nur einen Ort, an den es ihn zog, und zwar an ihren letzten Wohnort. Dort ginge es ihm bestimmt gut, zumindest wahrscheinlich besser als hier. Schließlich hatte er dort Freunde. Je länger sie darüber nachdachte, desto weniger Sorgen machte sie sich. Im Gegenteil, sie freute sich für ihn. Endlich hatte er es geschafft, auszubrechen. Und sie wusste bereits, wie sie ihn aufspüren konnte.

Aber darum würde sie sich später kümmern. Schnell warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr und stellte fest, dass sie spät dran war. Sie rannte in ihr Zimmer, schnappte sich ihre hübschesten Klamotten und Schuhe und warf sie in eine Sporttasche. Um sich zu schminken, hatte sie keine Zeit mehr.

»Warum musst du alles kaputt machen, was du in die Finger bekommst!?«, kreischte ihre Mom direkt hinter ihr. »Ich hätte dich niemals zu mir nehmen sollen!«

Caitlin starrte sie schockiert an.

»Was redest du denn da?«

»Ganz genau«, fuhr ihre Mom fort. »Ich habe dich aufgenommen. Du bist nicht mein Kind. Du bist es nie gewesen. Du warst seine Tochter. Du bist nicht meine richtige Tochter. Hörst du mich!? Ich schäme mich dafür, dich als Tochter zu haben!«

Caitlin sah den Hass in ihren schwarzen Augen. Sie hatte ihre Mom noch nie so rasend erlebt. In ihren Augen entdeckte sie Mordlust.

»Warum musstest du das Einzige, was gut war in meinem Leben, vertreiben?«, brüllte ihre Mom.

Erneut stürzte sie sich mit ausgestreckten Händen auf Caitlin und packte sie am Hals. Bevor Caitlin reagieren konnte, wurde sie schon gewürgt – und zwar heftig.

Caitlin rang nach Luft. Aber der Griff um ihren Hals war eisern. Er sollte sie töten.

Die Wut brach über Caitlin herein, und diesmal konnte sie sie nicht mehr unterdrücken. Sie spürte die inzwischen vertraute, prickelnde Hitze, die in ihren Zehen begann und bis in ihre Arme und Schultern hinaufwanderte. Diesmal ließ sie sich von ihr einhüllen. Die Muskeln an ihrem Hals traten hervor. Ohne dass Caitlin etwas tat, lockerte sich der Griff um ihren Hals.

Ihre Mom musste den Beginn der Verwandlung mitbekommen haben, denn plötzlich sah sie ängstlich aus. Caitlin warf den Kopf zurück und stieß einen Schrei aus. Sie hatte sich in ein furchterregendes Wesen verwandelt.

Ihre Mom ließ sie los, trat einen Schritt zurück und starrte sie mit offenem Mund an.

Caitlin streckte eine Hand aus und versetzte ihrer Mutter einen heftigen Stoß, der sie mit einer solchen Wucht rückwärtsfliegen ließ, dass sie mit einem lauten Krachen die Wand durchbrach und im angrenzenden Zimmer landete. Dort prallte sie gegen die nächste Wand und sank bewusstlos zu Boden.