Schnell suchten ihre Augen das Café ab. Völlig außer Atem blieb sie stehen und hatte schon jetzt das Gefühl, dass sie auffiel. Als sie die Gäste zu ihrer Linken und dann zu ihrer Rechten musterte, stellte sie fest, dass alle Blicke auf sie gerichtet waren. Nur Jonah konnte sie nicht entdecken. Das Herz wurde ihr schwer. Er war wohl schon gegangen.
»Caitlin?«
Sie wirbelte herum. Hinter ihr stand Jonah und lachte sie an. Sie freute sich riesig.
»Es tut mir so leid«, versicherte sie hastig. »Normalerweise komme ich nie zu spät. Es ist nur …«
»Schon okay«, meinte er und legte ihr leicht die Hand auf die Schulter. »Mach dir keine Gedanken. Ich bin einfach nur froh, dass du in Ordnung bist«, fügte er hinzu.
Sie sah in seine strahlenden grünen Augen. Sein Gesicht war immer noch grün und blau verfärbt und angeschwollen. Trotzdem entspannte sie sich zum ersten Mal an diesem Tag wieder. Nun hatte sie das Gefühl, dass alles wieder gut werden würde.
»Wir haben bloß nicht mehr viel Zeit, wenn wir pünktlich da sein wollen«, sagte er. »Uns bleiben nur noch fünf Minuten. Ich denke, wir sollten ein anderes Mal einen Kaffee trinken.«
»Schon okay«, erwiderte sie. »Ich bin nur froh, dass wir das Konzert nicht verpassen. Ich fühle mich wie eine komplette …«
Plötzlich blickte Caitlin an sich hinunter und stellte entsetzt fest, dass sie immer noch ihre legere Kleidung trug und ihre Sporttasche, in der sich ihre hübschen Sachen und die schicken Schuhe befanden, in der Hand hielt. Ursprünglich hatte sie geplant, früh im Café zu sein, die Damentoilette aufzusuchen und sich dort umzuziehen. Doch jetzt stand sie ihm schlampig gekleidet gegenüber und klammerte sich an eine Sporttasche. Ihre Wangen glühten. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte.
»Jonah, es tut mir leid, dass ich in diesem Aufzug hier aufkreuze«, erklärte sie schließlich. »Ich wollte mich eigentlich vorher umziehen, aber … Hast du nicht gesagt, wir haben noch fünf Minuten?«
Besorgt schaute er auf seine Armbanduhr.
»Ja, aber …«
»Ich bin sofort wieder da«, rief sie, und noch bevor er etwas einwenden konnte, sauste sie quer durch das Café und verschwand auf der Toilette.
Dort stürmte sie in eine Kabine und verriegelte die Tür. Dann riss sie ihre Sporttasche auf und zerrte ihre schicken Sachen heraus. Leider waren sie inzwischen leicht zerknittert. Im Handumdrehen schlüpfte sie aus ihrer Kleidung und ihren Schuhen und zog schnell ihren schwarzen Samtrock und ihre weiße Seidenbluse an. Dann steckte sie sich ihre Ohrringe mit den unechten Diamanten in die Ohrläppchen. Sie waren billig, sahen aber gut aus. Ihr Outfit wurde durch die schwarzen High Heels abgerundet.
Prüfend betrachtete sie sich im Spiegel. Sie sah ein wenig zerzaust aus, aber es war nicht so schlimm, wie sie es sich vorgestellt hatte. Ihre am Hals offen stehende Bluse enthüllte das kleine silberne Kreuz, das sie wie immer um den Hals trug. Sie hatte keine Zeit gehabt, sich zurechtzumachen, aber zumindest war sie angemessen gekleidet. Schnell hielt sie die Hände unter den Wasserhahn und fuhr sich durch die Haare. Dann schnappte sie sich ihre schwarze Handtasche.
Gerade wollte sie gehen, da fiel ihr Blick auf ihre Kleidung und die Turnschuhe. Sie zögerte kurz. Natürlich wollte sie diese Klamotten nicht den ganzen Abend mit sich herumschleppen. Eigentlich wollte sie sie sogar nie wieder tragen.
Also knüllte sie die Kleidungsstücke zusammen und stopfte sie hochzufrieden in den Mülleimer in der Ecke des Raums. Jetzt besaß sie nur noch das Outfit, das sie am Körper trug – und es fühlte sich gut an, in dieser Kleidung in ihr neues Leben zu spazieren.
Jonah wartete vor dem Café auf sie, wippte mit dem Fuß und sah immer wieder auf die Uhr. Als sie die Tür öffnete, drehte er sich rasch um, doch bei ihrem Anblick erstarrte er. Sprachlos starrte er sie an.
Caitlin hatte noch nie erlebt, dass ein Junge sie so ansah. Sie fand sich eigentlich nicht besonders attraktiv. Doch durch Jonahs Blick fühlte sie sich, als wäre sie etwas … ganz Besonderes. Zum ersten Mal fühlte sie sich wie eine Frau.
»Du bist … wunderschön«, sagte er leise.
»Danke«, erwiderte sie. Du auch, hätte sie gerne geantwortet, aber sie hielt sich zurück.
Erfüllt von neuem Selbstvertrauen ging sie auf ihn zu, hakte sich bei ihm unter und wandte sich in Richtung der Carnegie Hall. Er passte sich ihrem Tempo an und legte seine freie Hand auf ihre.
Wie schön es war, Arm in Arm mit einem Jungen zu gehen. Trotz der Ereignisse des heutigen Tages und des Vortages schwebte Caitlin nun im siebten Himmel.
6. Kapitel
Die Carnegie Hall war brechend voll. Jonah ging voraus und bahnte sich einen Weg durch die Menge zur Kasse, um ihre Tickets abzuholen. Durchzukommen war nicht einfach. Die hier versammelten Menschen waren wohlhabend und anspruchsvoll, und alle schienen es eilig zu haben. Caitlin hatte noch nie so viele gut gekleidete Leute auf einem Fleck gesehen. Die meisten Männer trugen einen Smoking, die Frauen lange Abendkleider. Überall glitzerte und funkelte kostbarer Schmuck. Es war aufregend!
Jonah holte die Tickets ab und führte Caitlin die Treppe hinauf. Er reichte die Tickets einem Saalordner, der den Kontrollabschnitt abriss und dann die Tickets zurückgab.
»Kann ich eins davon behalten?«, fragte Caitlin, als Jonah die Tickets gerade in die Tasche stecken wollte.
»Na klar«, sagte er und gab ihr eins.
Sie strich mit dem Daumen darüber.
»Ich hebe so was gerne auf«, fügte sie errötend hinzu. »Da bin ich vermutlich ein bisschen sentimental.«
Jonah lächelte, als sie das Ticket vorne in ihre Tasche steckte.
Ein Platzanweiser zeigte ihnen den Weg. Sie gingen einen luxuriösen Flur mit einem dicken roten Teppich entlang. Gerahmte Bilder von Künstlern und Sängern hingen an den Wänden.
»Wie hast du denn die Freikarten ergattert?«, wollte Caitlin wissen.
»Über den Lehrer, bei dem ich den Bratschenunterricht nehme«, erklärte er. »Er hat ein Abonnement, aber heute konnte er nicht herkommen, deshalb hat er mir die Karten gegeben.«
»Ich hoffe, es schmälert das Ganze für dich nicht, dass ich nicht selbst dafür bezahlt habe«, fügte er dann noch hinzu.
Sie sah ihn verwirrt an.
»Unsere Verabredung.«
»Natürlich nicht«, erwiderte sie. »Du hast mich doch hierhergebracht. Das ist das Einzige, worauf es ankommt. Es ist einfach fantastisch hier.«
Ein anderer Platzanweiser zeigte Caitlin und Jonah eine schmale Tür, die direkt in den Konzertsaal führte. Sie befanden sich weit oben, in einer Höhe von ungefähr fünfzehn Metern. In der kleinen Loge gab es nur zehn bis fünfzehn Plätze. Ihre Sitze lagen am Rand des Balkons, direkt vorne am Geländer.
Jonah klappte den dicken Plüschsitz für sie herunter, und sie sah auf die Zuschauermenge und die Musiker hinab. Es war der stilvollste Ort, an dem sie je gewesen war. Staunend betrachtete sie das Meer grauer Haare unter sich und fühlte sich rund fünfzig Jahre zu jung, um hier zu sein. Trotzdem war sie begeistert.
Als Jonah sich setzte, berührten sich ihre Ellbogen. Die Nähe seines warmen Körpers war aufregend. Während sie warteten, hätte sie am liebsten seine Hand gehalten. Aber sie wollte nicht riskieren, aufdringlich zu wirken. Also hoffte sie, dass er den ersten Schritt wagen würde. Aber er machte keine Anstalten. Na ja, es war ja noch früh. Vielleicht war er auch schüchtern.
Stattdessen beugte er sich über das Geländer und zeigte ihr die Musiker.
»Die besten Geiger sitzen am Bühnenrand«, erläuterte er. »Diese Frau dort ist eine der besten Geigerinnen der Welt.«
»Hast du schon mal hier gespielt?«, fragte sie.
Jonah lachte. »Schön wär’s!«, meinte er. »Dieser Konzertsaal liegt nur fünfzig Häuserblocks von unserem entfernt, aber er könnte sich genauso gut auf einem anderen Planeten befinden – zumindest, was mein Talent angeht. Vielleicht irgendwann einmal.«