Sie blickte auf die Bühne hinunter, wo Hunderte von Musikern ihre Instrumente stimmten. Sie trugen alle Abendgarderobe und wirkten ernst und konzentriert. Hinten an der Wand hatte ein riesiger Chor Aufstellung genommen.
Plötzlich stolzierte ein junger Mann um die zwanzig mit langem wallendem Haar auf die Bühne. Auch er trug einen Smoking. Als er zwischen den Musikern hindurchging und auf die Mitte der Bühne zustrebte, erhob sich das gesamte Publikum und applaudierte.
»Wer ist das denn?«, fragte Caitlin.
Gerade erreichte der Mann das Zentrum der Bühne und verbeugte sich lächelnd mehrere Male. Selbst von hier oben konnte Caitlin erkennen, dass er umwerfend attraktiv war.
»Sergei Rakow«, antwortete Jonah. »Er ist einer der besten Opernsänger der Welt.«
»Aber er sieht so jung aus.«
»Hier geht es nicht um Alter, sondern um Talent«, antwortete Jonah. »Aber es gibt Talent, und es gibt Talent. Und mit dieser Art von Talent muss man geboren sein – und man muss sehr viel üben. Nicht vier Stunden täglich, sondern acht Stunden. Jeden Tag. Das würde ich tun, wenn ich könnte, aber mein Dad lässt mich nicht.«
»Warum nicht?«
»Er will nicht, dass sich mein ganzes Leben nur um eine Bratsche dreht.«
Sie hörte die Enttäuschung in seiner Stimme.
Schließlich ebbte der Applaus ab.
»Heute Abend spielen sie Beethovens 9. Sinfonie«, erklärte Jonah. »Sie ist wohl sein berühmtestes Werk. Hast du sie schon mal gehört?«
Caitlin schüttelte den Kopf und kam sich sehr dumm vor. Sie hatte in der neunten Klasse klassische Musik durchgenommen, aber sie hatte im Unterricht kaum zugehört. Damals hatte sie dem Ganzen nichts abgewinnen können, und außerdem waren sie gerade erst wieder umgezogen, und ihre Gedanken waren ganz woanders. Doch jetzt wünschte sie, sie hätte besser aufgepasst.
»Um diese Sinfonie zu spielen, braucht man ein großes Orchester«, führte er weiter aus, »und einen großen Chor. Wahrscheinlich sind mehr Musiker und Sänger auf der Bühne erforderlich als für jedes andere Musikstück. Das ist alles sehr aufregend. Deshalb ist das Konzerthaus auch so voll.«
Sie ließ den Blick über den Saal schweifen. Dort waren Tausende von Menschen und kein einziger freier Sitzplatz.
»Dieses Werk ist die letzte vollendete Sinfonie Beethovens. Er wusste, dass er bald sterben würde, und setzte dieses Wissen in Musik um. Was man hört, ist der Klang des bevorstehenden Todes.« Er drehte sich zu ihr und lächelte entschuldigend. »Tut mir leid, es ist etwas morbid, ich weiß.«
»Nein, das ist schon in Ordnung«, erwiderte sie, und sie meinte es auch so. Sie liebte es einfach, ihm zuzuhören. Sie liebte den Klang seiner Stimme, und es gefiel ihr, wie viel er wusste. Ihre Freunde führten immer oberflächliche Unterhaltungen, aber sie wollte mehr. Sie schätzte sich glücklich, mit Jonah zusammen zu sein.
Es gab so viel, was sie ihm sagen wollte, so viele Fragen, die sie ihm stellen wollte – aber auf einmal wurden die Lichter gedimmt, und im Zuschauerraum wurde es ganz still. Sie würde warten müssen. Erst einmal lehnte sie sich zurück und machte es sich bequem.
Als sie den Blick senkte, entdeckte sie überrascht, dass Jonah seine Hand auf die Armlehne zwischen ihnen gelegt hatte – mit der Handfläche nach oben, als ob er ihre Hand einlud. Langsam, um nicht zu eifrig zu wirken, streckte sie ihre Hand aus und legte sie in seine. Sie war weich und warm. Ihre Hände schienen miteinander zu verschmelzen.
Als das Orchester zu spielen begann und die ersten Töne erklangen – sanft, ruhig und melodiös –, wurde sie von einem ihr bisher unbekannten Glücksgefühl erfasst. Ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie noch nie zuvor so glücklich gewesen war. Die Ereignisse des Vortags verblassten völlig. Wenn das der Klang des Todes war, wollte sie mehr davon hören.
* * *
Caitlin ging voll und ganz in der Musik auf und wunderte sich, dass sie die noch nie gehört hatte. Doch als sie gerade noch darüber nachdachte, wie sie ihr Date mit Jonah weiter ausdehnen könnte, geschah es wieder. Der Schmerz schlug ganz plötzlich zu. Er traf sie im Bauch, wie zuvor auf der Straße, und sie musste ihre ganze Willenskraft aufwenden, um nicht vor Jonahs Augen umzukippen. Schweigend biss sie die Zähne zusammen und rang nach Luft. Auf ihrer Stirn bildeten sich Schweißperlen.
Ein weiterer stechender Schmerz ergriff Besitz von ihr.
Dieses Mal schrie sie leise auf, nur ein kleines bisschen, aber laut genug, um die Musik zu übertönen, die gerade anschwoll. Jonah musste sie gehört haben, denn er drehte sich zu ihr und sah sie besorgt an. Sanft legte er ihr eine Hand auf die Schulter.
»Bist du okay?«, fragte er.
Nein, sie war nicht okay. Der Schmerz war überwältigend. Und sie spürte noch etwas anderes: Hunger. Sie hatte geradezu Heißhunger. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sie ein Gefühl dermaßen überwältigt.
Sie sah kurz zu Jonah hinüber, und ihr Blick suchte sofort seinen Hals. Instinktiv konzentrierte sie sich auf das Pulsieren seiner Vene und verfolgte ihren Verlauf vom Ohr hinunter bis zur Kehle. Sie beobachtete das Pochen seines Pulses und zählte die Herzschläge.
»Caitlin?«
Das Verlangen wurde übermächtig. Sie spürte, dass sie sich nicht mehr länger unter Kontrolle haben würde, wenn sie auch nur noch eine Sekunde länger sitzen blieb. Wenn sie jetzt nichts unternahm, würde sie definitiv ihre Zähne in Jonahs Hals bohren.
Mit allerletzter Willenskraft stand Caitlin auf, sprang mit einer einzigen fließenden Bewegung über Jonah hinweg und rannte die Stufen hinauf zur Tür.
Im selben Moment wurden die Lichter im Saal voll aufgedreht, während das Orchester noch die letzten Noten spielte. Pause. Das gesamte Publikum sprang auf und applaudierte wie wild.
Caitlin erreichte die Tür wenige Sekunden, bevor die Massen sich aus ihren Sitzen erhoben.
»Caitlin!?«, schrie Jonah irgendwo hinter ihr. Wahrscheinlich versuchte er, ihr zu folgen.
Sie konnte nicht zulassen, dass er sie so sah. Und was noch viel wichtiger war: Sie durfte ihn nicht in ihre Nähe lassen. Sie fühlte sich wie ein Tier. Schnell lief sie die leeren Gänge der Carnegie Hall entlang, schnell und immer schneller, bis sie schließlich regelrecht sprintete.
Bald erreichte sie eine unglaubliche Geschwindigkeit und raste förmlich über die mit Teppichen ausgelegten Flure. Sie war ein Tier auf der Jagd. Und sie brauchte Nahrung. Sie wusste genug, um zu begreifen, dass sie von der Menschenmenge weg musste. Und zwar schnell.
Als sie einen Ausgang entdeckte, lehnte sie sich mit der Schulter gegen die Tür, doch sie war verschlossen. Caitlin sprengte sie einfach aus den Angeln.
Anschließend fand sie sich in einem nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Treppenhaus wieder. Sie sauste die Stufen hinauf, immer drei auf einmal nehmend, bis sie eine weitere Tür erreichte. Sie öffnete sie auf die gleiche Weise wie die erste Tür und stand in einem neuen Gang.
Dieser Gang war noch vornehmer und noch leerer als die anderen. Trotz des Nebels, in dem sie sich bewegte, erkannte sie, dass sie sich im Backstagebereich befand. Sie ging den Flur entlang und krümmte sich vor Hunger. Ihr war klar, dass sie das keine Sekunde länger aushalten konnte.
Sie hob die Hand und versetzte der nächstbesten Tür einen Stoß. Sie flog mit einem lauten Krachen auf. Es war eine private Garderobe.
Vor einem Spiegel saß der Sänger, Sergei, und bewunderte sich selbst. Das hier musste seine Garderobe sein. Irgendwie hatte es sie hierherverschlagen.
Ärgerlich stand er auf.
»Es tut mir leid, aber jetzt gibt es keine Autogramme«, schnauzte er sie an. »Die Sicherheitsleute hätten Ihnen das sagen sollen. Das ist meine freie Zeit. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich muss mich vorbereiten.«
Mit einem kehligen Schrei stürzte Caitlin sich direkt auf seinen Hals und bohrte ihre Zähne tief in seine Kehle.
Er schrie auf, aber es war zu spät.
Ihre Zähne stießen in seine Venen. Sie trank. Sie spürte, wie sein Blut durch ihre Adern floss und ihr heftiges Verlangen allmählich gestillt wurde. Es war genau das, was sie gebraucht hatte. Und sie hätte keinen Augenblick länger warten können.