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»Nicht«, befahl sie.

Er blieb stehen.

»Ich möchte das gerne hören.«

Sie starrte Sergei an und lauschte seiner Stimme. Der Stimme des Mannes, der vor nur wenigen Stunden noch gelebt hatte. Es war gespenstisch.

Noch einmal umkreiste Grace den Raum. Diesmal kniete sie sich hin.

»Wir haben bereits das ganze Zimmer untersucht«, versicherte ein FBI-Agent ungeduldig.

Doch da entdeckte sie etwas aus dem Augenwinkel. Sie schob die Hand weit unter den Sessel. Dann reckte sie den Hals und drehte den Arm zur Seite.

Schließlich fand sie, was sie gesucht hatte. Mit rotem Kopf stand sie auf und hielt ein kleines Stück Papier hoch.

Die Polizisten starrten sie an.

»Der Rest einer Eintrittskarte«, sagte sie, nachdem sie den Papierfetzen mit ihrer behandschuhten Hand untersucht hatte. »Rechter Balkon, Sitz drei. Vom heutigen Konzert.«

Sie blickte auf und sah die Polizisten ernst an. Ausdruckslos erwiderten sie ihren Blick.

»Glauben Sie, das Ticket hat dem Mörder gehört?«, fragte schließlich einer.

»Nun, eins ist mal sicher«, antwortete sie und warf einen letzten Blick auf den toten russischen Opernstar. »Ihm gehörte es nicht.«

* * *

Kyle stolzierte über den roten Teppich den Gang entlang und bahnte sich mühelos einen Weg durch das Gedränge. Wie immer war er schlecht gelaunt. Er hasste Menschenansammlungen, und er hasste die Carnegie Hall. Irgendwann um 1890 herum hatte er hier einmal ein Konzert besucht, und es war nicht gut gelaufen. Er war sehr nachtragend.

Der hohe schwarze Kragen seines Mantels verdeckte seinen Nacken und rahmte sein Gesicht ein. Er marschierte einen Gang entlang, und sämtliche Leute machten ihm Platz. Polizeibeamte, Sicherheitsleute, Presseagenten – alle bildeten eine Gasse für ihn.

Menschen sind so leicht zu kontrollieren, dachte er. Ein kleines bisschen mentale Beeinflussung – und schon hasten sie aus dem Weg wie dumme Schafe.

Kyle war ein Vampir aus dem Blacktide Clan und hatte in seinen mehr als dreitausend Jahren schon alles erlebt, was man nur erleben konnte. Er war dabei gewesen, als Christus gekreuzigt wurde. Er war Zeuge der Französischen Revolution gewesen. Er hatte miterlebt, wie sich die Pocken in Europa ausbreiteten – er hatte sogar mit dazu beigetragen. Es gab eigentlich nichts mehr, was ihn noch überraschen konnte.

Aber diese Nacht überraschte ihn. Und er mochte keine Überraschungen.

Normalerweise würde er einfach seine stattliche Erscheinung für sich sprechen lassen und sich einen Weg durch die Menge bahnen. Trotz seines Alters sah er jung und attraktiv aus, und die Leute machten ihm üblicherweise gerne Platz. Aber dafür hatte er heute Nacht keine Geduld, schon gar nicht unter den gegebenen Umständen. Schließlich gab es dringende Fragen, auf die er noch keine Antwort hatte.

Welcher Vampir wäre so waghalsig, in der Öffentlichkeit einen Menschen zu töten? Wer würde sich für eine solche Weise entscheiden, bei der die Leiche unweigerlich gefunden werden musste? Es verstieß gegen jegliche Regel ihrer Art. Gleichgültig, ob man zu den Guten oder zu den Bösen zählte, diese Grenze überschritt man einfach nicht. Niemand wollte, dass diese Art von Aufmerksamkeit auf die Vampire gelenkt wurde. Es handelte sich um einen Verstoß gegen ihre Überzeugung, für den es nur eine mögliche Bestrafung gab, nämlich den Tod. Einen langsamen, qualvollen Tod.

Wer wäre dreist genug, so etwas zu tun? So viel unerwünschte Aufmerksamkeit bei Presse, Politik und Polizei zu erregen? Und was noch schlimmer war, das Ganze auf dem Territorium seines Clans zu tun? Es warf ein schlechtes Licht auf seinen Clan – schlimmer als schlecht. Es ließ sie wehrlos aussehen. Alle Vampire würden zusammenkommen und seinen Clan dafür verantwortlich machen. Und wenn sie diesen aus der Art geschlagenen Vampir nicht finden könnten, würde das Krieg bedeuten. Krieg zu einer Zeit, zu der sie es sich nicht leisten konnten, weil sie gerade dabei waren, ihren Masterplan in die Tat umzusetzen.

Kyle ging an einer Polizistin vorbei, und sie stießen heftig zusammen. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, drehte sie sich auch noch um und starrte ihn an. Er war überrascht. Kein anderer Mensch in dieser Menge besaß die mentale Stärke, ihn überhaupt wahrzunehmen. Sie musste stärker sein als die anderen. Entweder das, oder er wurde allmählich nachlässig.

Er verdoppelte seine mentale Kraft und richtete sie auf die Frau. Schließlich schüttelte sie den Kopf, wandte sich ab und ging weiter. Er würde sie im Auge behalten müssen. Schnell warf er einen Blick auf ihr Namensschild. Detective Grace Grant. Sie könnte vielleicht zu einem Problem werden.

Kyle setzte seinen Weg fort und eilte an weiteren Reportern vorbei, ignorierte das Absperrband und stieß auf eine Gruppe von FBI-Agenten. Dann erreichte er die offen stehende Tür und blickte in den Raum. Dort befanden sich weitere FBI-Agenten sowie ein Mann in einem teuren Anzug. Sein unruhiger Blick und sein ehrgeiziges Aussehen ließen Kyle vermuten, dass er Politiker war.

»Die russische Botschaft ist nicht erfreut«, fauchte er den verantwortlichen FBI-Agenten an. »Ihnen ist sicher klar, dass das nicht nur eine Angelegenheit der New Yorker Polizei oder der amerikanischen Regierung ist. Sergei war ein Star unter den Sängern unseres Landes. Seine Ermordung muss als Affront gegenüber Russland betrachtet werden …«

Kyle hob die Hand und brachte den Politiker mit seiner Willenskraft zum Schweigen. Er hasste es, Politikern zuzuhören, und speziell von diesem hier hatte er schon mehr als genug gehört. Außerdem hasste er Russen. Eigentlich hasste er fast alles. Aber heute Nacht erreichte sein Hass eine neue Dimension. Beinah hätte seine Ungeduld ihn überwältigt.

Niemand der Anwesenden schien zu bemerken, dass Kyle den Politiker zum Schweigen gebracht hatte, nicht einmal der Politiker selbst. Vielleicht waren sie auch dankbar. Auf jeden Fall stellte Kyle sich an eine Wand und setzte erneut seine mentale Kraft ein. Diesmal, um dafür zu sorgen, dass alle den Raum verließen.

»Ich würde vorschlagen, dass wir eine kurze Kaffeepause einlegen«, sagte der verantwortliche FBI-Agent auf einmal. »Damit wir wieder einen klaren Kopf bekommen.«

Alle nickten zustimmend und verließen fluchtartig das Zimmer, als wäre es das Normalste der Welt. Zuletzt sorgte Kyle noch dafür, dass sie die Tür hinter sich schlossen. Er hasste den Klang menschlicher Stimmen, und gerade jetzt wollte er sie nicht hören.

Kyle atmete tief ein. Da er nun endlich allein war, konnte er seine Gedanken voll und ganz auf diesen Menschen konzentrieren. Er ging dicht an Sergei heran und zog ihm den Kragen zurück, um die Bissspuren betrachten zu können. Dann legte er zwei seiner blassen, kalten Finger in die Wunden. Anschließend hielt er sie in die Höhe und schätzte den Abstand zwischen ihnen ab.

Eine kleinere Bissspur, als er vermutet hätte. Es war also eine Sie; der aus der Art geschlagene Vampir war weiblich. Und jung: Die Zähne waren nicht besonders lang.

Er legte die Finger wieder über die Bissspuren und schloss die Augen. Auf diese Weise versuchte er, die Herkunft des Blutes und die Herkunft des Vampirs, der zugebissen hatte, zu erfühlen. Schließlich riss er erschreckt die Augen auf. Schnell zog er die Finger zurück. Was er gefühlt hatte, gefiel ihm nicht, denn er konnte es nicht deuten. Es handelte sich definitiv um einen aus der Art geschlagenen Vampir. Sie gehörte weder zu seinem Clan noch zu irgendeinem Clan, den er kannte. Was ihn jedoch noch mehr beunruhigte, war die Tatsache, dass er nicht herausfinden konnte, zu welcher Vampirspezies sie überhaupt gehörte. Das war ihm in den dreitausend Jahren noch nie passiert.

Er hielt sich die Finger unter die Nase und roch daran. Ihr Geruch überwältigte ihn. Normalerweise würde das ausreichen – er wüsste ganz genau, wo sie zu finden wäre. Aber in diesem Fall war er ratlos. Irgendetwas verschleierte seinen Blick.

Er runzelte die Stirn. Sie hatten keine Wahl. Sie mussten sich auf die Polizei verlassen. Seine Vorgesetzten würden nicht gerade erfreut sein.