»Du willst mich also für dumm verkaufen, ich verstehe. Das ist nicht besonders klug von dir.«
Kyle gab seinen Untergebenen ein Zeichen. Sofort eilten sie herbei und lösten die Ketten von Caitlins Handgelenken. Ihre Arme sanken herab, und sie war erleichtert, als das Blut wieder in ihre Hände strömte. Als Nächstes ketteten sie ihre Fußgelenke los. Dann packten sie je zwei von ihnen mit festem Griff an den Armen und Schultern.
»Wenn du mir nicht antworten willst«, sagte Kyle, »dann wirst du dich eben vor der Versammlung verantworten müssen. Vergiss nicht, du hast es so gewollt. Aber sie werden sicher keine Gnade walten lassen, wie ich es vielleicht getan hätte.«
Als sie sie abführten, fügte Kyle noch hinzu: »Vertue dich nicht. Du wirst so oder so sterben. Aber meine Methode wäre schnell und schmerzlos gewesen. Jetzt wirst du erleben, was Leiden bedeutet.«
Caitlin versuchte, Widerstand zu leisten, als sie sie wegschleiften. Aber es war zwecklos. Es gab nichts, was sie tun konnte, als sich ihrem Schicksal zu stellen.
Und zu beten.
* * *
Die Eichentür öffnete sich, und Caitlin traute ihren Augen kaum. Der Raum war riesig, kreisförmig und von dreißig Meter hohen Steinsäulen gesäumt, die zudem reich verziert waren. Alle anderthalb Meter leuchtete eine Fackel. Der Raum sah aus wie das Pantheon und schien antik zu sein.
Als sie hereingeführt wurde, fiel ihr als Erstes der Lärm auf. Eine riesige Menge war dort versammelt. Sie blickte sich um und sah Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Männern und Frauen in schwarzer Kleidung, die alle durcheinanderliefen. Ihre Bewegungen waren seltsam, so schnell, so willkürlich, so … unmenschlich.
Sie hörte ein Rauschen und hob den Blick. Dutzende dieser Kreaturen sprangen oder flogen durch den Raum, vom Boden zur Decke, von der Decke auf Balkone, von Säulen zu Mauervorsprüngen. Das war es auch, was das rauschende Geräusch verursachte, das sie eben gehört hatte. Es war, als hätte sie eine Höhle voll von gigantischen Fledermäusen betreten.
Sie ließ all das auf sich wirken und war zutiefst erschüttert. Vampire existierten also tatsächlich. Hieß das, sie war eine von ihnen?
Sie führten sie in die Mitte des Raums. Die Ketten klirrten, und ihre Füße auf dem Steinboden waren kalt. Sie brachten sie zu einem Punkt, der durch einen großen Kreis aus Bodenfliesen gekennzeichnet war.
Als sie das Zentrum erreicht hatten, ebbte der Lärm allmählich ab. Die Bewegungen verlangsamten sich. Hunderte von Vampiren ließen sich vor ihr in einem großen Amphitheater aus Stein nieder. Das Ganze sah aus wie eine politische Versammlung, wie auf den Bildern, die sie von der Rede zur Nation gesehen hatte – nur dass hier anstelle von Politikern jede Menge Vampire anwesend waren, die sie zudem alle anstarrten. Ihre Disziplin und Ordnung waren beeindruckend. Innerhalb von Sekunden hatten alle Platz genommen und waren verstummt.
Caitlin stand mitten in der Halle und wurde von ihren Begleitern festgehalten. Kyle trat neben sie, verschränkte die Hände und senkte ehrerbietig den Kopf.
Vor der Versammlung stand ein gewaltiger Sessel aus Stein. Er wirkte wie ein Thron. Darin saß ein Vampir, der älter aussah als die anderen. Er musste schon sehr alt sein, sie sah es in seinen kalten blauen Augen. Er schaute auf sie hinab, als hätte er schon zehntausend Jahre erlebt. Sie hasste das Gefühl, das sein Blick in ihr auslöste. Er schien das personifizierte Böse zu sein.
»So«, knurrte er leise. »Das ist also diejenige, die in unser Revier eingedrungen ist.« Seine Stimme war tief und rau, ohne jede Spur von Wärme. Sie hallte in dem großen Saal wider.
»Wer ist der Anführer deines Clans?«, fragte er.
Caitlin hielt seinem Blick stand und überlegte, was sie antworten sollte. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte.
»Ich habe keinen Anführer«, entgegnete sie schließlich. »Und ich gehöre auch nicht zu einem Clan. Ich bin allein hier.«
»Du kennst die Strafe für die Übertretung der Grenzen«, fuhr er fort, und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. »Wenn es etwas Schlimmeres als Unsterblichkeit gibt«, führte er aus, »dann ist es die Unsterblichkeit voller Qualen.«
Er blickte sie starr an.
»Das ist deine letzte Chance.«
Sie starrte zurück und hatte immer noch keine Ahnung, was sie sagen sollte. Aus dem Augenwinkel suchte sie nach einem Fluchtweg. Doch sie entdeckte keinen.
»Wie du willst«, sagte er und nickte ganz leicht.
Eine Seitentür ging auf, und ein Vampir in Ketten wurde von zwei Wärtern hereingezerrt. Sie brachten ihn mitten in die Halle bis zu der Stelle, wo Caitlin stand. Voller Angst sah sie zu und verstand nicht, was vor sich ging.
»Dieser Vampir hat gegen die Paarungsregel verstoßen«, erläuterte der Anführer. »Das heißt, sein Verstoß war nicht so schwerwiegend wie deiner. Aber trotzdem muss er bestraft werden.«
Der Anführer nickte erneut, und ein Helfer mit einer kleinen Glasflasche in der Hand trat vor. Er spritzte den Inhalt auf den gefesselten Vampir.
Dieser schrie gellend auf. Caitlin sah, dass die Haut an seinem Arm sofort Blasen warf, als hätte er sich verbrannt. Seine Schreie waren fürchterlich.
»Das ist nicht bloß irgendein Weihwasser«, erklärte der Anführer, »sondern ein ganz besonderes. Aus dem Vatikan. Ich versichere dir, dass es sich durch alle Hautschichten brennen wird, und der Schmerz wird fürchterlich sein. Schlimmer als Säure.«
Wieder warf er Caitlin einen harten Blick zu. In der Halle war es totenstill.
»Erzähl uns, woher du kommst, und dir werden schreckliche Qualen erspart bleiben.«
Caitlin schluckte – sie wollte dieses Wasser nicht auf ihrer Haut spüren. Die Wirkung, die es hatte, schien entsetzlich zu sein. Andererseits, wenn sie kein echter Vampir war, sollte es ihr auch keinen Schaden zufügen. Aber es war trotzdem kein Experiment, das sie gerne wagen wollte.
Sie zerrte an ihren Ketten, aber sie gaben nicht nach.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und auf ihrer Stirn stand der Schweiß. Was sollte sie ihm bloß sagen?
Er versuchte, sie einzuschätzen.
»Du bist mutig, und ich bewundere deine Loyalität gegenüber deinem Clan. Aber deine Zeit ist abgelaufen.«
Er nickte, und sie hörte Ketten rasseln. Dann sah sie, wie zwei Gehilfen einen großen Kessel in die Höhe zogen. Mit jedem Zug hob er sich ein gutes Stück weiter in die Luft. Als er oben war – rund fünf Meter über dem Boden –, schwangen sie das Gefäß direkt über ihren Kopf.
»Dieser Vampir wurde nur mit sehr wenig Weihwasser bespritzt«, erklärte der Anführer. »Doch über dir befinden sich mehrere Liter davon. Wenn das Wasser sich über dich ergießt, wirst du unvorstellbare Schmerzen erleiden. Du wirst diese Schmerzen dein Leben lang spüren; du wirst zwar weiterleben, aber unbeweglich und hilflos sein. Denk daran: Du selbst hast dich dafür entschieden.«
Der Mann nickte, und Caitlins Herz schlug noch schneller. Die Gehilfen befestigten die Ketten an einem Stein und ergriffen so schnell wie möglich die Flucht.
Als Caitlin nach oben sah, neigte sich der Kessel bereits, und die Flüssigkeit floss heraus. Sie senkte den Kopf und schloss die Augen.
Bitte, lieber Gott. Hilf mir!
»Nein!«, kreischte sie, und ihr Schrei hallte im Saal wider.
Dann ergoss sich das Wasser über sie.
10. Kapitel
Das Wasser bedeckte ihren ganzen Körper, und sie hatte Mühe, Luft zu holen und die Augen offen zu halten. Doch rund zehn Sekunden später, als ihre Haare, ihr Körper und ihre Kleidung bereits komplett durchnässt waren, zwinkerte Caitlin. Sie machte sich auf den Schmerz gefasst.
Doch er kam nicht.
Sie zwinkerte noch einmal, sah zu dem Kessel auf und fragte sich, ob er schon vollständig geleert war. Er war leer. Sie sah an sich hinunter und stellte fest, dass sie klitschnass war. Aber es ging ihr gut. Sie hatte nicht die geringsten Schmerzen.