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Auf einmal begriff es auch der Anführer. Er stand auf, und die Kinnlade klappte ihm herunter. Ganz offensichtlich konnte er es nicht fassen. Auch Kyle drehte sich um und starrte sie mit offenem Mund an. Die ganze Versammlung, Hunderte von Vampiren, stand auf, und ein Raunen lief durch die Reihen.

Damit hatten sie nicht gerechnet. Alle waren wie vor den Kopf gestoßen.

Aus irgendwelchen Gründen hatte das Wasser bei ihr keine Wirkung gezeigt. Vielleicht war sie trotz allem doch kein Vampir?

Caitlin erkannte ihre Chance.

Während die anderen noch zu schockiert waren, um zu reagieren, mobilisierte sie all ihre Kräfte und sprengte mit einer einzigen Bewegung ihre Ketten. Dann sprintete sie davon und visierte die Seitentür an – sie betete, dass sie irgendwohin führen würde.

Sie hatte die halbe Halle durchquert, bevor auch nur irgendjemand aus seiner Schockstarre erwachte.

»Haltet sie!«, schrie schließlich der Anführer.

Und dann rauschten Hunderte von Körpern auf sie zu. Der Lärm prallte von den Wänden ab und schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. Caitlin erkannte, dass sie nicht bloß rannten – nein, sie sprangen auch von der Decke und den Balkonen und breiteten die Flügel aus, um sie zu erreichen. Also verdoppelte sie ihre Geschwindigkeit und rannte, so schnell sie konnte.

Sie irrte in der Dunkelheit umher, die nur schwach von Fackeln erhellt wurde. Als sie um eine Ecke bog, entdeckte sie schließlich in der Ferne eine weitere Tür. Sie stand offen, und Licht drang herein. Es war in der Tat ein Ausgang, und er wäre perfekt, wäre da nicht dieser eine letzte Vampir gewesen.

Er stand vor der Tür und versperrte ihr den Weg. Groß und gut gebaut, war auch er von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Allerdings sah er jünger aus als die anderen, vielleicht wie zwanzig, und seine Gesichtszüge waren kantiger. Trotz der Eile und trotz der Lebensgefahr, in der Caitlin schwebte, registrierte sie unwillkürlich, wie unglaublich attraktiv dieser Vampir war. Dennoch versperrte er ihr den Weg nach draußen.

Vielleicht konnte sie den anderen davonlaufen, aber sie kam nicht an diesem Mann vorbei. Doch er öffnete die Tür noch weiter, als wollte er ihr Platz machen. Hatte er vor, sie zu täuschen? Sie bemerkte, dass er einen langen Speer in der Hand hielt.

Als sie näher kam, hob er ihn hoch und zielte direkt auf sie. Doch sie war jetzt nur noch wenige Schritte von der Tür entfernt und konnte nicht mehr anhalten. Sie waren ihr auf den Fersen, und wenn sie langsamer würde, wäre es sofort vorbei mit ihr. Also rannte sie auf den einzelnen Vampir zu, schloss die Augen und stellte sich darauf ein, von dem Speer durchbohrt zu werden. Wenigstens würde es schnell gehen.

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, wie er den Speer losließ, und duckte sich reflexartig.

Aber er hatte zu hoch gezielt. Viel zu hoch. Sie warf einen Blick über die Schulter und begriff, dass er gar nicht sie anvisiert hatte, sondern einen der Vampire, der sich auf sie stürzen wollte. Die silberne Spitze des Speers durchbohrte die Kehle des Vampirs, und ein grässlicher Schrei erfüllte den Gang, als die Kreatur zu Boden fiel.

Staunend betrachtete Caitlin den Vampir. Er hatte sie gerade gerettet. Warum?

»Lauf weiter!«, schrie er.

Sie nahm wieder Geschwindigkeit auf und raste durch die offene Tür.

Als sie sich umdrehte, zog er gerade mit aller Kraft die Tür zu. Schnell packte er einen großen Metallriegel und verbarrikadierte damit die Tür. Dann ging er einige Schritte rückwärts, bis er neben ihr stand, und beobachtete von dort aus die Tür.

Unwillkürlich sah sie zu ihm auf, musterte sein Gesicht, seine dunklen Haare und Augen. Er hatte sie gerettet. Warum?

Er erwiderte ihren Blick nicht, sondern beobachtete immer noch voller Angst die Tür. Und das aus gutem Grund. Bereits eine Sekunde, nachdem er sie verriegelt hatte, war ein Körper von der anderen Seite dagegengeprallt. Zwar war die Tür mehr als einen Meter dick und aus massivem Stahl, und auch die Riegel waren äußerst robust, aber den Vampiren war sie nicht gewachsen. Ihre Körper krachten dagegen, die Tür war kurz davor, zu bersten. Es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis die Vampire durch den Stahl brechen würden.

»Los!«, rief er, ergriff ihren Arm und rannte los. Er zog sie einfach mit sich, sodass sie schneller lief, als sie je zuvor gelaufen war. Sie rannten durch einen Gang, dann durch den nächsten, immer weiter. Ab und zu beleuchteten Fackeln ihren Weg. Allein hätte sie es nie geschafft, von dort zu fliehen.

»Was ist hier los?«, fragte Caitlin atemlos, während sie immer weiter liefen. »Wohin …«

»Hier entlang!«, schrie er und zog sie abrupt in eine andere Richtung.

Hinter sich hörten sie ein Krachen, die Meute war ihnen weiter auf den Fersen.

Schließlich erreichten sie eine Wendeltreppe aus Stein, die sich eine Mauer hochwand. Mit voller Geschwindigkeit stürmte er mit ihr zusammen darauf zu, und sie sausten die Treppe hinauf, immer drei Stufen auf einmal nehmend. Schnell gewannen sie an Höhe.

Als sie oben ankamen, schien die Treppe direkt vor einer Wand zu enden. Über ihnen befand sich eine Decke aus Stein, und sie konnte keinen Ausweg entdecken. Sie steckten in einer Sackgasse. Wohin hatte er sie geführt?

Doch er schien ebenfalls verwirrt zu sein. Und wütend. Aber er wirkte entschlossen. Er trat einige Schritte zurück, nahm Anlauf und sprang mit beiden Füßen gegen die Decke. Es war einfach unglaublich: Mit seinen übermenschlichen Kräften trat er ein Loch in die Decke. Steinbröckchen rieselten herab, und ein Lichtschein fiel durch das Loch. Es war elektrisches Licht. Wo waren sie?

»Komm weiter!«, rief er.

Er sprang durch das Loch, ergriff ihren Arm und zog sie hinauf in den lichtdurchfluteten Raum.

Sie sah sich um. Es sah aus, als befänden sie sich in einem Gerichtsgebäude. Oder in einem Museum. Es war ein prachtvolles, wunderschönes Bauwerk. Die Böden waren aus Marmor, die Wände und die Säulen aus Stein. Der Raum war rund. Es könnte auch ein Regierungsgebäude sein.

»Wo sind wir?«, wollte sie wissen.

Statt einer Antwort nahm er ihre Hand und sprintete wieder los. Beinahe mit Lichtgeschwindigkeit durchquerten sie den Raum. Vor ihnen tauchte eine riesige, zweiflügelige Stahltür auf. Er ließ ihre Hand los und stürmte direkt darauf zu. Krachend flog die Tür auf.

Diesmal folgte sie ihm auf dem Fuße, ohne erst dazu aufgefordert werden zu müssen. Hinter sich hörte sie bereits das Geräusch fallender Steine und wusste, dass der Mob nicht mehr weit entfernt war.

Endlich gelangten sie ins Freie; sie spürten die kalte Nachtluft im Gesicht. Caitlin war dankbar, nicht mehr unter der Erde zu sein.

Rasch versuchte sie, sich zu orientieren. Sie waren definitiv in New York. Aber wo? Die Umgebung kam ihr vage bekannt vor. Sie sah eine Straße, ein vorbeifahrendes Taxi. Als sie sich umdrehte, erkannte sie das Gebäude, das sie gerade verlassen hatten. Die City Hall, das Rathaus von New York City. Der Clan hatte sich unter der City Hall versammelt.

Schnell liefen sie die Stufen hinunter, überquerten den Vorplatz und steuerten auf die Straße zu. Sie waren noch nicht weit gekommen, als sie bereits den Lärm der Vampire hinter sich hörten, die durch die Tür brachen.

Caitlin und ihr Begleiter strebten auf ein großes Eisentor zu, das von zwei Sicherheitsleuten flankiert wurde. Die Sicherheitsleute drehten sich um und sahen zwei Personen auf das Tor zurennen. Verblüfft rissen sie die Augen auf und griffen nach ihren Waffen.

»Keine Bewegung!«, schrien sie.

Doch noch bevor sie überhaupt reagieren konnten, packte der Vampir Caitlin, machte drei große Sätze und sprang. Sie flogen durch die Luft – drei Meter, fünf Meter –, ließen das Eisentor hinter sich und landeten elegant auf der anderen Seite.

Sofort stürmten sie weiter. Verblüfft sah Caitlin ihren Beschützer an und fragte sich, wie groß seine Macht sein mochte. Warum kümmerte er sich um sie? Warum fühlte sie sich an seiner Seite so wohl?