Mehr Zeit zum Nachdenken blieb ihr jedoch nicht, denn hinter ihnen ging Metall zu Bruch, und Schüsse waren zu hören. Die anderen Vampire hatten das Tor durchbrochen und die Wachmänner einfach überrannt. Sie waren schon wieder dicht hinter ihnen.
Caitlin und ihr Begleiter rannten und rannten, aber es reichte nicht. Die Meute rückte immer näher.
Plötzlich ergriff er ihre Hand und bog mit ihr um eine Ecke. Sie liefen eine Seitenstraße entlang, die vor einer Mauer endete.
»Dort gibt es keinen Durchgang!«, schrie sie, aber er rannte einfach weiter und zog sie mit sich.
Als sie das Ende der Straße erreichten, kniete er sich hin und öffnete mit einem Finger den großen Eisendeckel eines Kanalisationsschachtes.
Sie drehte sich noch einmal um und sah eine große Gruppe Vampire auf sie zukommen. Sie waren nur noch knapp zehn Meter entfernt.
»Los!«, brüllte er, und bevor sie reagieren konnte, hatte er sie schon in den Schacht geschoben.
Sie hielt sich an der Leiter fest und sah noch oben. Er nahm den Kanaldeckel als Schutzschild und bereitete sich auf den Ansturm vor.
Dann fiel die Meute über ihn her. Er schwenkte den schweren Deckel. Sie hörte, wie er einen Vampir nach dem anderen niederschlug. Offenbar versuchte er, zu ihr zu gelangen und ebenfalls in das Loch zu klettern, aber er schaffte es nicht. Er war komplett eingekreist.
Als sie gerade wieder hinaufklettern wollte, um ihm zu helfen, löste sich einer der Vampire aus der Gruppe und schlüpfte in das Loch. Er entdeckte Caitlin, fauchte und kam direkt auf sie zu.
Sie hastete die Leiter hinunter und nahm immer zwei Sprossen auf einmal, aber sie war nicht schnell genug. Er sprang sie an, und sie stürzten beide in die Tiefe.
Während des Sturzes bereitete sie sich auf den Aufprall vor. Glücklicherweise landeten sie im Wasser.
Als sie aufstand, stellte sie fest, dass sie bis zur Taille in schmutzigem Abwasser stand.
Im selben Augenblick landete der Vampir mit einem lauten Platschen neben ihr. Er holte aus und schlug ihr ins Gesicht, sodass sie mehrere Schritte rückwärtstaumelte.
Sie sah, dass er wieder zuschlagen wollte, diesmal gegen ihren Hals. Gerade noch rechtzeitig warf sie sich zur Seite. Er war schnell, aber das war sie auch.
Er strauchelte und fiel ins Wasser. Sofort sprang er wieder auf, wirbelte herum und nahm eine Angriffsposition ein. Offenbar wollte er ihr mit der rechten Hand das Gesicht zerkratzen, doch sie wich aus. Er verfehlte sie nur ganz knapp; sie spürte noch den Luftzug an ihrer rechten Wange. Seine Hand traf die Wand mit einer solchen Kraft, dass sie sich in die Mauer bohrte.
Caitlin war jetzt sauer. Glühender Zorn pulsierte in ihren Adern. Sie ging zu dem feststeckenden Vampir, holte mit dem Fuß aus und trat ihm kraftvoll in den Bauch. Er krümmte sich zusammen.
Dann umfasste sie ihn von hinten und warf ihn mit dem Gesicht zuerst gegen die Wand. Sein Kopf prallte gegen den Stein. Sie war stolz auf sich und dachte, sie hätte ihn erledigt.
Doch ein plötzlicher Schmerz im Gesicht belehrte sie eines Besseren. Der Vampir hatte sich schnell erholt – schneller, als sie es für möglich gehalten hätte – und versetzte ihr erneut einen Schlag. Diesmal sprang er sie an, landete mit einem lauten Krachen auf ihr und brachte sie zu Fall. Sie hatte ihn unterschätzt.
Seine Hand lag an ihrer Kehle. Sie war zwar stark, aber er war stärker – durch seine Adern floss sehr alte Kraft. Seine Hand war kalt und feucht. Sie versuchte, ihn abzuwehren, aber es gelang ihr nicht. Schließlich sank sie auf die Knie, und er drückte zu. Ehe sie sich versah, drückte er ihren Kopf unter Wasser. Im letzten Moment gelang es ihr noch, um Hilfe zu rufen.
Eine Sekunde später tauchte ihr Kopf unter.
* * *
Caitlin spürte unter Wasser eine Bewegung und wusste, dass noch jemand anders ins Wasser gesprungen war. Sie litt unter Sauerstoffmangel und konnte sich nicht wehren.
Starke Arme hoben sie aus dem Wasser.
Sie sprang auf und schnappte nach Luft. Sie atmete tief ein, wieder und wieder.
»Bist du okay?«, fragte er und hielt sie an den Schultern fest.
Sie nickte. Mehr brachte sie nicht zustande. Ihr Angreifer trieb auf dem Rücken im Wasser. Blut sickerte aus seinem Hals. Er war tot.
Sie sah ihn an, und seine braunen Augen erwiderten ihren Blick. Er hatte sie gerettet. Schon wieder.
»Wir müssen weiter«, sagte er, nahm ihren Arm und führte sie durch das hüfthohe, schwappende Wasser. »Dieser Kanaldeckel wird sie nicht lange abhalten.«
Wie aufs Stichwort wurde der Deckel über ihnen plötzlich aufgerissen.
Sie rannten los, durchquerten einen Tunnel nach dem anderen und hörten hinter sich Wasser aufspritzen.
Ihr Retter bog scharf um eine Kurve. Hier reichte das Wasser ihnen nur noch bis zu den Knöcheln. Jetzt konnten sie wieder richtig beschleunigen.
Sie bogen in einen weiteren Tunnel ein und fanden sich plötzlich mitten im Versorgungsnetz von New York City wieder. Man sah gigantische Leitungen, die riesige Dampfwolken ausstießen. Die Hitze war unerträglich.
Er führte sie in den nächsten Tunnel, hob sie auf und nahm sie huckepack. Sie schlang ihre Arme um seine Brust. So kletterten sie eine Leiter hinauf. Als sie oben ankamen, schlug er gegen einen Kanaldeckel und warf ihn dann im hohen Bogen aus dem Schacht.
Endlich befanden sie sich wieder oberirdisch in den Straßen von New York City. Doch sie hatte keine Ahnung, wo sie waren.
»Halte dich gut fest«, forderte er sie auf, und sie verstärkte den Griff um seine Brust. Während er lief und lief, erreichte er eine Geschwindigkeit, die sie noch nie erlebt hatte. Sie erinnerte sich daran, wie sie einmal vor Jahren auf einem Motorrad mitgefahren war und der Wind ihr bei fast achtzig Stundenkilometern durch die Haare peitschte. Genau so fühlte es sich auch jetzt an. Nur dass sie noch schneller waren.
Inzwischen mussten sie etwa hundertzwanzig Stundenkilometer erreicht haben, dann hundertsechzig, hundertneunzig … Es ging immer weiter. Die Gebäude, die Menschen, die Autos – alles verschwamm in einem Nebel. Und dann hoben sie plötzlich ab.
Sie flogen durch die Luft. Dazu öffnete er seine großen schwarzen Schwingen, die neben ihr langsam auf und ab schlugen. Sie flogen über Autos und Menschen hinweg. Als sie hinunterschaute, sah sie, dass sie gerade die 14. Straße überflogen. Und nur wenige Sekunden später die 34. Dann befanden sie sich über dem Central Park. Es raubte ihr den Atem.
Er warf einen prüfenden Blick über die Schulter, und sie folgte seinem Beispiel. Doch sie konnte kaum etwas sehen, weil ihr der Wind in die Augen peitschte. Dennoch erkannte sie, dass ihnen niemand folgte.
Schließlich wurde er ein wenig langsamer und verringerte ihre Flughöhe. Nun flogen sie direkt über den Baumwipfeln. Es war wunderschön. So hatte sie den Central Park noch nie erlebt. Die Wege waren erleuchtet, und die Baumkronen befanden sich direkt unter ihnen. Sie hätte die Hände ausstrecken und sie berühren können. So wunderschön würde ihr der Park bestimmt nie wieder vorkommen.
Sie verstärkte den Griff um seine Brust und spürte seine Wärme. Ein Gefühl von Sicherheit machte sich in ihr breit. Wie unwirklich das alles auch sein mochte, in seinen Armen fühlte es sich wieder normal an. Am liebsten wäre sie ewig so weitergeflogen. Sie schloss die Augen, spürte die kühle Brise über ihr Gesicht streichen und betete, dass diese Nacht nie enden würde.
11. Kapitel
Caitlin spürte, wie sie immer langsamer wurden und weiter an Höhe verloren. Sie öffnete die Augen. Keines der Gebäude unter ihnen kam ihr bekannt vor. Offensichtlich waren sie in einem Vorort, womöglich irgendwo in der Bronx.
Sie flogen über einen kleinen Park, und in der Ferne glaubte sie ein Kloster zu erkennen. Als sie näher kamen, sah sie, dass es sich tatsächlich um ein Kloster handelte. Was hatte denn ein Kloster in New York City zu suchen?
Angestrengt zerbrach sie sich den Kopf. Auf einmal fiel ihr ein, dass sie dieses festungsähnliche Gebäude schon einmal gesehen hatte. Irgendwo auf einer Ansichtskarte … Ja. Es war ein Museum. Als sie einen kleinen Hügel hinaufflogen, sah sie die Befestigungsmauern und die mittelalterlich anmutenden Kreuzgänge. Plötzlich wusste sie wieder, worum es sich handelte: The Cloisters. Das kleine Museum, das zum Metropolitan Museum of Art in New York City gehörte. Die Fragmente waren in Europa zusammengetragen und Stück für Stück in die USA gebracht worden. Es war viele Hundert Jahre alt. Warum brachte er sie hierher?