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Sie überflogen die äußeren Mauern und landeten sanft auf einer großen Steinterrasse, von der aus man den Hudson River sehen konnte. Es war dunkel, trotzdem landete er mit beiden Füßen elegant auf dem Steinboden. Vorsichtig ließ er sie herunter.

Als sie ihm gegenüberstand, betrachtete sie ihn genau. Sie hoffte, dass er sich nicht als Traumfigur entpuppen und gleich wegfliegen würde. Und sie hoffte, dass er wirklich so fantastisch aussah, wie sie ihn in Erinnerung hatte.

Das tat er. Womöglich sogar noch besser. Er blickte mit seinen großen braunen Augen auf sie hinunter, und in dem Moment war sie verloren.

Es gab so viele Fragen, die sie ihm gerne stellen wollte, dass sie überhaupt nicht wusste, womit sie beginnen sollte. Wer war er? Warum konnte er fliegen? War er ein Vampir? Warum hatte er für sie sein Leben riskiert? Warum hatte er sie hierhergebracht? Und was am wichtigsten war: War all das, was sie gerade erlebt hatte, nur eine wilde Halluzination gewesen? Oder gab es tatsächlich Vampire, und das mitten in New York City? War sie auch einer?

Sie öffnete den Mund, um ihn auszufragen, aber alles, was sie herausbrachte, war: »Warum sind wir hier?«

Ihr war sofort klar, wie dumm die Frage war, und sie hasste sich dafür, nichts Wichtigeres gefragt zu haben. Doch als sie dort so in der kalten Märznacht stand, das Gesicht ein wenig taub vor Kälte, brachte sie einfach nicht mehr zustande.

Er starrte sie an. Sein Blick schien ihre Seele zu durchbohren, als könnte er in sie hineinsehen. Es sah aus, als überlegte er, wie viel er ihr anvertrauen sollte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete er schließlich den Mund und wollte etwas sagen.

Doch da rief jemand: »Caleb!«, und sie drehten sich beide um.

Eine Gruppe von Männern – waren es Vampire? – in schwarzer Kleidung marschierte direkt auf sie zu. Caleb wandte sich ihnen zu. Caleb. Der Name gefällt mir.

»Wir haben keine Freigabe für deine Ankunft«, erklärte der Mann in der Mitte äußerst ernst.

»Ich komme unangekündigt«, entgegnete Caleb geradeheraus.

»Dann müssen wir dich in Gewahrsam nehmen«, erwiderte der Mann und nickte seinen Männern zu, die Caleb und Caitlin langsam einkreisten. »So sind die Regeln.«

Caleb nickte unbeeindruckt. Der Mann in der Mitte sah Caitlin direkt an. Sie entdeckte Missbilligung in seinen Augen.

»Du weißt, dass wir sie nicht reinlassen können«, erinnerte er Caleb.

»Doch, das werdet ihr«, entgegnete Caleb bestimmt. Fest erwiderte er den Blick des Mannes. Hier wurde offensichtlich ein Machtkampf ausgetragen.

Caitlin merkte, dass der Mann unsicher war, was er tun sollte. Es folgte ein langes, angespanntes Schweigen.

»Na schön«, meinte er schließlich, drehte sich abrupt um und ging voraus. »Das ist deine Sache.«

Caleb folgte ihm mit Caitlin an seiner Seite.

Der Mann öffnete eine riesige mittelalterliche Tür, indem er an dem runden Türöffner aus Messing zog. Dann trat er zur Seite und bedeutete Caleb, einzutreten. Drinnen standen zwei schwarz gekleidete Männer direkt links und rechts neben der Tür.

Caleb nahm Caitlin an der Hand und führte sie hinein. Als sie durch den steinernen Torbogen trat, hatte sie das Gefühl, in einem anderen Jahrhundert gelandet zu sein.

»Ich nehme an, wir müssen keinen Eintritt zahlen«, sagte Caitlin zu Caleb und lächelte.

Er sah sie an und blinzelte. Offensichtlich brauchte er einen Moment, um zu begreifen, dass sie einen Scherz gemacht hatte. Doch dann erwiderte er ihr Lächeln.

Er hatte ein wunderschönes Lächeln.

Plötzlich musste sie an Jonah denken und war verwirrt. Es sah ihr nicht ähnlich, starke Gefühle für einen Jungen zu entwickeln – und schon gar nicht für zwei am selben Tag. Sie mochte Jonah immer noch. Aber Caleb war anders. Jonah war ein Junge, aber Caleb war – obwohl er jung aussah – ein Mann. Oder war er … etwas anderes? Er hatte etwas an sich, was sie sich nicht erklären konnte, und sie war nicht in der Lage, den Blick von ihm zu wenden. Es war etwas, das in ihr den Wunsch weckte, ihm nicht mehr von der Seite zu weichen. Sie mochte Jonah sehr. Aber sie brauchte Caleb. In seiner Nähe zu sein füllte sie vollständig aus.

Calebs Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war. Er war eindeutig beunruhigt.

»Ich fürchte, unser Eintrittspreis wird viel höher sein«, sagte er, »falls dieses Treffen nicht so läuft, wie ich es mir erhoffe.«

Er führte sie durch einen weiteren Torbogen in einen kleinen mittelalterlichen Innenhof. Der Hof war vollkommen symmetrisch und an allen vier Seiten von Säulen und Bogengewölben umgeben. Im Mondschein sah er wunderschön aus. Sie konnte kaum glauben, dass sie sich immer noch in New York City befanden. Genauso gut hätten sie irgendwo in Europa auf dem Land sein können.

Sie überquerten den Hof und gingen einen langen Gang entlang. Das Geräusch ihrer Schritte wurde von den Steinwänden zurückgeworfen. Mehrere Männer begleiteten sie. Ob es wohl Vampire waren? Und falls ja, warum waren sie so zivilisiert? Warum griffen sie weder Caleb noch sie an?

Sie bogen in einen weiteren Gang ein und traten durch eine weitere mittelalterliche Tür. Dann wurden sie plötzlich aufgehalten.

Vor ihnen stand ein Mann – ebenfalls schwarz gekleidet –, der Caleb verblüffend ähnlich sah. Er trug einen voluminösen roten Umhang um die Schultern und war in Begleitung einer Gruppe von Männern. Offensichtlich hatte er eine verantwortliche Position.

»Caleb«, sagte er leise. Er klang betroffen.

Caleb sah ihn mit ruhigem Blick an.

»Samuel«, erwiderte Caleb.

Der Mann schüttelte ganz leicht den Kopf.

»Keine Umarmung für deinen verlorenen Bruder?«, fragte Caleb.

»Du weißt, dass die Lage sehr ernst ist«, entgegnete Samuel. »Du hast mehrere Gesetze gebrochen, indem du heute Nacht hierhergekommen bist. Insbesondere, indem du sie mitgebracht hast.«

Er machte sich nicht einmal die Mühe, Caitlin eines Blickes zu würdigen. Sie war beleidigt.

»Aber ich hatte keine andere Wahl«, verteidigte sich Caleb. »Der Tag ist gekommen. Es herrscht Krieg.«

Unter den Vampiren, die hinter Samuel standen, brach unterdrücktes Gemurmel aus, ebenso in der wachsenden Gruppe hinter Caleb und Caitlin. Sie drehte sich um und stellte fest, dass sie inzwischen von mehr als einem Dutzend Vampiren umgeben war. Allmählich bekam sie Platzangst. Sie waren absolut in der Unterzahl, und es gab keinen Ausweg. Zwar hatte sie keine Ahnung, was Caleb getan hatte, aber was auch immer es war – sie hoffte, dass es ihm gelingen würde, sich herauszureden.

Samuel hob die Hände, und das Gemurmel erstarb.

»Was noch wichtiger ist«, fuhr Caleb fort, »ist diese Frau hier.« Er nickte in Caitlins Richtung. »Sie ist es.«

Frau. Caitlin war noch nie als Frau bezeichnet worden. Das gefiel ihr. Aber sie verstand nicht, was er meinte. Sie ist es? Er hatte den Satz so komisch betont, beinahe, als würde er vom Messias reden. Langsam fragte sie sich, ob sie alle verrückt waren.

Wieder ging ein Raunen durch die Menge, und alle Köpfe wandten sich ihr zu, alle starrten sie an.

»Ich muss den Rat sehen«, verlangte Caleb. »Und ich muss sie mitnehmen.«

Samuel schüttelte den Kopf.

»Du weißt, dass ich dich nicht davon abhalten kann. Ich kann dir bloß einen Rat geben. Und ich rate dir, sofort zu gehen, auf deinen Posten zurückzukehren und zu warten, bis der Rat dich rufen lässt.«