Kyle holte tief Luft und begann zu berichten.
»Über das Mädchen wissen wir nicht viel«, gab er zu. »Wir haben keine Ahnung, warum das Weihwasser keine Wirkung auf sie hatte. Aber wir wissen, dass sie es war, die über den Opernsänger hergefallen ist. Er befindet sich inzwischen in unserer Obhut, und wir erwarten, dass er uns zu ihr führen wird, sobald er sich erholt hat. Er wurde von ihr verwandelt. Ihr Geruch ist in seinem Blut.«
»Welchem Clan gehört sie an?«, fragte Rexus.
Kyle bewegte sich unruhig hin und her. Er wählte seine Worte sehr sorgfältig.
»Wir glauben, dass sie ein aus der Art geschlagener Vampir ist, eine Einzelgängerin.«
»Glauben!? Weißt du denn gar nichts?«
Die Zurechtweisung ließ Kyle das Blut in die Wangen schießen.
»Also hast du sie in unsere Mitte gebracht, ohne etwas über sie zu wissen«, stellte Rexus fest. »Du hast unseren gesamten Clan in Gefahr gebracht.«
»Ich habe sie hergebracht, um sie zu vernehmen. Ich hatte keine Ahnung, dass sie immun …«
»Und was ist mit dem Spion?«, fiel Rexus ihm ins Wort.
Kyle schluckte.
»Caleb. Wir haben ihn vor zweihundert Jahren aufgenommen. Er hat seine Loyalität viele Male unter Beweis gestellt. Wir hatten nie einen Grund, ihm zu misstrauen.«
»Wer hat ihn rekrutiert?«, wollte Rexus wissen.
Kyle machte eine Pause und schluckte erneut.
»Ich.«
»Aha«, sagte Rexus. »Also hast du gleich zweimal eine Bedrohung in unsere Reihen geholt.«
Rexus blitzte ihn an. Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Eine Feststellung voller Verachtung.
»Es tut mir leid, Meister«, antwortete Kyle und neigte den Kopf. »Aber zu meiner Verteidigung möchte ich anmerken, dass niemand hier, kein einziger Vampir, je einen Verdacht gegen Caleb gehegt hat. Bei vielen Gelegenheiten …«
Rexus hob die Hand.
Kyle brach ab.
»Du hast mich gezwungen, den Krieg zu beginnen. Jetzt muss ich unsere ganzen Ressourcen umverteilen. Unser Masterplan muss erst einmal auf Eis gelegt werden.«
»Es tut mir leid, Meister. Ich werde alles tun, um sie zu finden, und dann wird sie dafür büßen.«
»Ich fürchte, dafür ist es zu spät.«
Kyle schluckte erneut und wappnete sich gegen das, was als Nächstes kommen würde. Falls es der Tod war, so war er bereit.
»Du musst dich nicht länger vor mir verantworten. Ich selbst bin ebenfalls vorgeladen worden. Und zwar vor den Obersten Rat.«
Kyle riss die Augen auf. Sein ganzes Leben lang hatte er Gerüchte über diesen Obersten Rat gehört, das oberste Gremium der Vampire, vor dem sich sogar der oberste Meister zu verantworten hatte. Doch jetzt erst wusste er mit Sicherheit, dass dieser Oberste Rat tatsächlich existierte und dass er vorgeladen werden würde.
»Sie sind äußerst unzufrieden mit den heutigen Ereignissen und fordern Antworten. Du wirst ihnen die Fehler erklären, die du begangen hast – warum sie entkommen ist, wie sich ein Spion einschleusen konnte … Außerdem wirst du Pläne zur Ausmerzung anderer Spione vorlegen. Und dann wirst du ihr Urteil akzeptieren.«
Kyle nickte langsam. Angesichts der Dinge, die auf ihn zukamen, erfüllte ihn Entsetzen. Das alles hörte sich gar nicht gut an.
»Wir kommen in der nächsten Neumondnacht zusammen. Das verschafft dir Zeit. Ich schlage vor, dass du unterdessen dieses Halbblut findest. Wenn es dir gelingt, könnte es dir das Leben retten.«
»Meister, ich verspreche, dass ich alles dafür tun werde. Ich selbst werde die Suchaktion leiten. Wir werden sie finden. Und wir werden sie büßen lassen.«
15. Kapitel
Jonah saß auf der Polizeiwache und hatte große Angst. Auf der einen Seite saß sein Dad, der nervöser wirkte, als Jonah ihn je erlebt hatte, und auf der anderen sein frisch angeheuerter Anwalt. Ihnen gegenüber in dem kleinen, hell erleuchteten Verhörraum hatten fünf Polizeibeamte Platz genommen. Hinter ihnen befanden sich fünf weitere Polizisten, die alle nervös auf und ab gingen.
Es war die Schlagzeile des Tages: Ein international gefeierter Opernsänger war ermordet worden – während seines ersten Auftritts auf amerikanischem Boden, mitten in der Carnegie Hall –, und zwar unter äußerst seltsamen Umständen. Aber das war noch nicht alles! Als die Polizei ihrer einzigen Spur nachgegangen und das Apartment der einzigen verdächtigen Person – einer jungen Frau – aufgesucht hatte, waren vier Polizisten ums Leben gekommen.
Nun waren sie nicht nur hinter der »Beethoven-Schlächterin« her (manche Zeitungen bezeichneten die verdächtige Frau auch als »Carnegie-Hall-Mörderin«), sondern jagten zudem auch noch einen Polizistenmörder – einen vierfachen Polizistenmörder, um genau zu sein! Jeder Polizist in der Stadt war auf die Morde angesetzt, und keiner von ihnen würde ruhen, bis der Fall gelöst war.
Doch die einzige Spur, die sie momentan hatten, saß ihnen gegenüber. Jonah. Die Person, die den Abend mit ihr verbracht hatte.
Jonah spürte, wie sich erneut Schweißtropfen auf seiner Stirn bildeten. Inzwischen saß er seit mehr als sechs Stunden in diesem Raum. In den ersten drei Stunden hatte er sich ständig den Schweiß abgewischt, doch jetzt ließ er die Tropfen einfach herunterlaufen. Er war längst auf seinem Stuhl zusammengesackt und völlig am Ende.
Tatsächlich wusste er nicht, was er noch hinzufügen sollte. Ein Polizist nach dem anderen war ins Zimmer gekommen, und sie alle hatten ihm dieselben Fragen gestellt, immer wieder.
Wie lange kennst du sie schon? Warum hast du sie in dieses Konzert mitgenommen? Warum ist sie in der Pause gegangen? Warum bist du ihr nicht gefolgt?
Wie war es nur so weit gekommen? Als sie kam, war sie so hübsch gewesen. Und so süß. Er hatte sich in ihrer Gegenwart wohlgefühlt und es geliebt, sich mit ihr zu unterhalten. Er war davon überzeugt gewesen, dass es ein traumhaftes Date werden würde.
Doch dann hatte sie angefangen, sich irgendwie seltsam zu benehmen. Kurz nach Beginn des Konzerts war sie immer unruhiger geworden. Sie hatte … krank war nicht das richtige Wort … Sie hatte … zappelig gewirkt. Er hatte das Gefühl gehabt, sie würde gleich platzen. Als müsste sie dringend irgendwohin, und zwar schnell.
Zuerst hatte er geglaubt, das Konzert gefiele ihr nicht. Er fragte sich, ob es doch keine gute Idee gewesen war, sie einzuladen. Dann hatte er überlegt, ob sie ihn vielleicht nicht mochte. Aber allmählich war ihre Rastlosigkeit immer auffälliger geworden, und er hatte die Hitze, die sie ausstrahlte, förmlich spüren können. Inzwischen machte er sich Gedanken, ob sie nicht vielleicht doch krank war – vielleicht litt sie ja an einer Lebensmittelvergiftung.
Als sie schließlich aufgesprungen und hinausgestürmt war, hatte er gedacht, sie würde zur Damentoilette rennen. Er war zwar verwirrt gewesen, hatte aber geduldig vor der Tür gewartet. Er war davon ausgegangen, dass sie nach der Pause wiederkommen würde. Erst nach fünfzehn Minuten – nach dem letzten Pausengong – war er allein an seinen Platz zurückgekehrt.
Und nach weiteren fünfzehn Minuten waren plötzlich im ganzen Saal die Lichter aufgeflammt. Ein Mann war auf die Bühne getreten und hatte verkündet, dass das Konzert nicht fortgesetzt werden würde. Das für die Konzertkarten bezahlte Geld werde zurückerstattet. Doch einen Grund hatte er nicht genannt. Die Menschen waren verblüfft und verärgert gewesen, aber hauptsächlich verwundert. Jonah besuchte schon sein ganzes Leben lang Konzerte, aber er hatte noch nie einen Abbruch nach der Pause erlebt. War der Sänger krank geworden?
»Jonah?«, blaffte die Polizistin ihn an.
Jonah schreckte auf.
Die Polizistin starrte ihn wütend an. Detective Grace war ihr Name. Sie wirkte ausgesprochen tough. Und sie war unerbittlich.
»Hast du nicht gehört, was ich dich gerade gefragt habe?«