Aber plötzlich wurde das Display schwarz. Das Handy war tot. Absolut tot.
Resigniert steckte sie es wieder in die Tasche. Ihr blieb nur noch ihr neues Leben. Es gab niemanden mehr. Sie war ganz auf sich allein gestellt – wie sie es immer schon gewesen war.
Schließlich verließ sie den Fort Tryon Park und fand sich in der Bronx wieder. Die Stadt gab ihr das Gefühl von Normalität und Orientierung zurück. Sie wusste zwar immer noch nicht genau, wohin sie sich wenden sollte, aber es fühlte sich gut an, Richtung Stadtzentrum zu gehen.
Ja, das war es: Sie würde zur Penn Station laufen! Dort könnte sie einen Zug nehmen und weit weg fahren. Vielleicht würde sie an ihren letzten Wohnort zurückkehren. Vielleicht war ihr Bruder noch dort. Sie könnte von vorn anfangen. So, als wäre das alles nie passiert.
Sie blickte sich um, überall an den Wänden und Mauern waren Graffitis, und an jeder Straßenecke standen Nutten und Stricher. Aber diesmal ließen sie Caitlin in Ruhe. Vielleicht erkannten sie, dass sie am Ende ihrer Kräfte war und bei ihr nichts zu holen war.
Dann entdeckte sie ein Straßenschild: 186. Straße. Es würde ein langer Marsch werden. Hundertfünfzig Häuserblocks bis zur Penn Station. Dafür würde sie die ganze Nacht brauchen. Dennoch war es das, was sie wollte. Sie würde den Kopf frei bekommen, frei von Caleb und Jonah und den Ereignissen der vergangenen zwei Tage und Nächte.
Sie sah endlich Licht am Ende des Tunnels, und dafür lohnte es sich, die ganze Nacht zu laufen.
17. Kapitel
Als Caitlin erwachte, war es Morgen. Sie spürte die schwache Wärme der Sonnenstrahlen und hob mühsam den Kopf, um sich zu orientieren. Unter ihren Armen und unter ihrer Stirn war kalter Stein. Wo war sie?
Als sie sich umblickte, erkannte sie, dass sie sich im Central Park befand. Nun erinnerte sie sich auch wieder, dass sie irgendwann letzte Nacht eine Pause eingelegt hatte, um sich auszuruhen. Sie war so müde und erschöpft gewesen, dass sie offensichtlich im Sitzen eingeschlafen war, sich nach vorne gebeugt und die Arme und den Kopf auf ein Steingeländer gelegt hatte.
Es war bereits früher Vormittag, und der Park war gut besucht. Eine Frau mit ihrer kleinen Tochter warf ihr einen seltsamen Blick zu. Als sie an Caitlin vorübergingen, zog sie ihre Tochter näher an sich heran.
Caitlin setzte sich auf und sah sich um. Einige Leute starrten sie an, und sie fragte sich, was sie wohl denken mochten. Ihre Kleider waren schmutzig, aber das war ihr egal. Sie wollte nur noch diese Stadt hinter sich lassen, in der für sie alles schiefgelaufen war.
Das Verlangen traf sie wie ein Schlag. Hunger. Oder war es Durst? Ein stechender Schmerz durchfuhr sie, und sie war auf einmal hungriger und durstiger, als sie es je zuvor gewesen war. Es war ein wahnsinniger, urtümlicher Trieb. Sie wollte dem Drang nachgeben und Blut saugen, wie sie es in der Carnegie Hall getan hatte.
Ein kleiner Junge, nicht älter als sechs, spielte in der Nähe Fußball und schoss den Ball zufällig in ihre Richtung. Er rannte auf sie zu. Seine Eltern waren schon weit vorausgegangen, mindestens zehn Meter.
Das war ihre Chance! Jede Faser ihres Körpers schrie nach Blut. Sie starrte auf seinen Hals und konnte das Pulsieren des Blutes erkennen, beinahe konnte sie es spüren und riechen. Am liebsten hätte sie sich auf den Jungen gestürzt.
Aber irgendetwas hielt sie zurück. Instinktiv wusste sie zwar, dass sie bald sterben musste, wenn sie kein Blut bekam. Aber lieber würde sie sterben, als dem Jungen etwas zuleide zu tun. Also ließ sie ihn gehen.
Das Sonnenlicht war unangenehm, aber noch erträglich. Lag es daran, dass sie ein Halbblut war? Welche Wirkung hätte die Sonne wohl auf andere Vampire gehabt? Vielleicht verschaffte ihr das einen Vorteil.
Trotzdem musste sie in dem grellen Sonnenlicht blinzeln. Sie fühlte sich benommen und durcheinander. So viele Menschen. So viel Unruhe. Warum hatte sie hier angehalten? Wohin war sie unterwegs gewesen? Ach ja, richtig … sie wollte zur Penn Station.
Ihre Füße schmerzten, weil sie so viel gelaufen war. Aber jetzt war es nicht mehr weit, nur noch dreißig Blocks. Sie konnte den Rest der Strecke zurücklegen, in einen Zug steigen und das Weite suchen. Mit reiner Willenskraft würde sie sich selbst zwingen, wieder normal zu werden. Wenn sie die Stadt nur weit genug hinter sich ließ, würde es vielleicht klappen.
Bedächtig stand Caitlin auf und wollte aufbrechen.
»Stehen bleiben!«, schrie plötzlich jemand.
»Keine Bewegung!«, brüllte eine andere Stimme.
Langsam drehte sich Caitlin um.
Vor ihr stand ein Dutzend New Yorker Polizisten in Uniform. Jeder von ihnen hatte eine Schusswaffe auf sie gerichtet. Sie hielten ungefähr fünf Meter Abstand, als fürchteten sie sich, näher zu kommen. Als wäre Caitlin ein wildes Tier.
Sie betrachtete die Polizisten und hatte seltsamerweise keine Angst. Stattdessen breitete sich eine merkwürdige Ruhe in ihr aus. Und von Minute zu Minute schwand ihr Zugehörigkeitsgefühl zur menschlichen Rasse. Sie fühlte sich unbesiegbar, als könnte sie ihnen davonlaufen oder sie bezwingen, ganz gleich, wie zahlreich sie waren oder über welche Waffen sie verfügten.
Aber gleichzeitig war sie auch müde und resigniert. Ein Teil von ihr wollte nicht mehr weglaufen, weder vor den Polizisten noch vor den Vampiren. Sie wusste ja nicht einmal, wohin sie lief oder wovor sie davonlief. Auf eigenartige Weise hätte es ihr deshalb sogar gefallen, von der Polizei abgeführt zu werden. Verhaftet zu werden wäre zumindest etwas Normales, etwas, das ihr Verstand erfassen konnte. Ihre Sinne waren geschärft, sodass ihr jedes kleine Detail auffieclass="underline" die Form ihrer Waffen, die Konturen des Abzugs, selbst die Länge der Fingernägel.
»Hände hoch, und zwar so, dass wir sie sehen können!«, schrie ein Polizist.
Die Beamten in der ersten Reihe waren nur wenige Schritte von Caitlin entfernt.
Kurz überlegte sie, wie ihr Leben hätte sein können, wenn ihr Vater sie nicht im Stich gelassen hätte. Wenn sie niemals umgezogen wären. Wenn sie eine andere Mom gehabt hätte. Wenn sie sich dauerhaft an einem Ort niedergelassen hätten. Wenn sie einen Freund gehabt hätte. Wäre sie dann normal geworden? Wäre ihr Leben dann normal verlaufen?
Einer der Polizisten war nur noch einen Schritt weit weg.
»Umdrehen! Und Hände hinter den Rücken«, befahl er. »Ganz langsam.«
Caitlin ließ langsam die Arme sinken, drehte sich um und legte die Hände auf den Rücken. Sie spürte, wie der Polizist ihre Handgelenke ergriff und dabei viel zu grob und unnötig brutal an ihren Armen zerrte. Dann fühlte sie das kalte Metall der Handschellen, die in ihre Haut einschnitten.
Der Polizist packte sie am Hinterkopf und zerrte an ihren Haaren. Dann beugte er sich dicht zu ihr herunter und flüsterte ihr ins Ohr: »Dafür wirst du auf dem elektrischen Stuhl landen.«
Und da passierte es! Ehe sie sich’s versah, war das scheußliche Geräusch splitternder Knochen zu hören. Sie roch Blut, und auf einmal spritzte warmes Blut über ihr ganzes Gesicht.
Nur den Bruchteil einer Sekunde später hörte sie Schreie und Schüsse. Instinktiv ließ sie sich zu Boden fallen. Erst dann sah sie sich um und begriff, was passiert war.
Der Polizist, der ihr Handschellen hatte anlegen wollen, war tot – er war enthauptet worden. Die anderen Polizisten schossen wild um sich, aber sie hatten keine Chance. Eine Horde Vampire – die aus der City Hall – hatte sich auf sie gestürzt. Sie rissen die Beamten in Stücke.
Den Polizisten gelang es zwar, einige Vampire zu treffen, aber das nützte ihnen nichts. Der Ansturm ging trotzdem weiter. Es war ein wahres Blutbad.
Plötzlich spürte Caitlin die vertraute Wärme in ihrem Blut. Die Kraft stieg von ihren Füßen aus nach oben und breitete sich bis zu den Armen und Schultern aus. Mit einem kräftigen Ruck sprengte sie die Handschellen und betrachtete verblüfft ihre Hände. An beiden Handgelenken baumelten Reste des Metalls, aber ihre Hände waren frei.