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Die Straße endete in einer T-Kreuzung, also konnte sie entweder nach links oder nach rechts abbiegen. Wenn sie ihren Vorsprung halten wollte, würde sie keine Zeit haben, es sich noch einmal anders zu überlegen, das hieß, sie musste sich schnell entscheiden. Da sie nicht sehen konnte, wohin die Straßen führten, bog sie blindlings nach links ab.

Sie betete, dass sie die richtige Wahl getroffen hatte. Bitte!

Doch als die Straße einen scharfen Linksknick machte, stockte ihr Herz. Sie erkannte, dass sie eine Sackgasse erwischt hatte.

Falscher Schachzug.

Eine Sackgasse. Sie lief bis zur Mauer und suchte nach einem Ausweg. Als sie begriff, dass es keinen gab, drehte sie sich um, um sich ihren Verfolgern zu stellen.

Völlig außer Atem sah sie zu, wie sie um die Ecke bogen und näher kamen. Über ihre Schultern hinweg konnte sie erkennen, dass sie in Sicherheit gewesen wäre, wenn sie sich für die andere Richtung entschieden hätte. Natürlich. Wie sollte es auch anders sein.

»Okay, du Schlampe«, sagte einer von ihnen drohend, »jetzt bist du dran.«

Langsam und heftig atmend kamen sie auf sie zu und grinsten breit. Offenbar waren sie bereits voller Vorfreude, weil sie ihr gleich wehtun würden.

Caitlin schloss die Augen und atmete tief durch. Sie wünschte sich mit aller Macht, dass Jonah aufwachen und um die Ecke biegen würde – hellwach und allmächtig, bereit, sie zu retten. Aber als sie die Augen öffnete, war er nicht da. Nur ihre Angreifer. Sie kamen immer näher.

Sie dachte daran, wie sehr sie ihre Mom dafür hasste, dass sie ihre Kinder gezwungen hatte, ständig umzuziehen. Sie dachte an ihren Bruder Sam. Sie dachte daran, wie ihr Leben wohl nach diesem Tag sein würde.

Sie ließ ihr ganzes Leben Revue passieren, und ihr wurde bewusst, wie ungerecht man sie behandelt hatte. Nie war etwas gut für sie gelaufen. Und dann machte es plötzlich Klick. Sie hatte genug davon.

Das verdiene ich nicht. DAS VERDIENE ICH EINFACH NICHT!

Und plötzlich spürte sie es.

Es überkam sie wie eine Welle, und es war anders als alles, was sie bisher erlebt hatte. Unkontrollierbare Wut überkam sie und schoss durch ihre Adern. Es fing in ihrem Bauch an und breitete sich von dort aus weiter aus. Ihre Füße fühlten sich an, als wären sie im Boden verwurzelt, als wären sie eins mit dem Asphalt, und eine urtümliche Kraft ergriff Besitz von ihr. Sie strömte durch ihre Handgelenke, die Arme hinauf bis in ihre Schultern.

Caitlin stieß einen Urschrei aus, der sogar sie selbst überraschte und erschreckte. Als dann der erste Typ seine kräftige Hand auf ihr Handgelenk legte, sah sie zu, wie ihre Hand sich selbstständig machte, das Handgelenk des Angreifers ergriff und es im rechten Winkel zurückbog. Er verzog das Gesicht vor Schreck und auch vor Schmerz, als sein Handgelenk brach.

Schreiend fiel er auf die Knie.

Die anderen drei rissen erstaunt die Augen auf.

Der Größte stürzte sich sofort auf sie.

»Du verd…«

Doch noch bevor er seinen Satz beenden konnte, war sie in die Luft gesprungen und hatte ihm beide Füße in die Brust gerammt. Er flog rund drei Meter rückwärts und knallte scheppernd in einen Haufen Blechmülltonnen.

Bewegungslos blieb er liegen.

Die anderen beiden Jungs tauschten erschrockene Blicke. Die Furcht stand ihnen ins Gesicht geschrieben.

Unmenschliche Kraft strömte durch Caitlins Körper, und sie hörte sich selbst wütend knurren. Dann hob sie die beiden verbliebenen Gegner (von denen jeder doppelt so groß war wie sie) mit je einer Hand vom Boden in die Höhe.

Als sie dort oben in der Luft baumelten, holte sie aus und knallte die beiden mit unglaublicher Wucht gegeneinander. Sie stürzten zu Boden.

Schäumend vor Wut stand Caitlin über ihnen und sah sich um.

Keiner der vier Angreifer rührte sich.

Aber sie empfand keine Erleichterung. Im Gegenteil, sie wollte mehr. Mehr Kids, mit denen sie kämpfen konnte. Mehr Körper, um sie durch die Gegend zu werfen.

Und außerdem wollte sie noch etwas anderes.

Plötzlich schärfte sie ihr Blick, sie konnte glasklar sehen und ihre entblößten Hälse heranzoomen. Sie konnte alles millimetergenau erkennen – sie sah sogar ihre Venen pulsieren. Es war offensichtlich: Sie wollte zubeißen, und sie wollte Nahrung.

Weil sie nicht verstand, was mit ihr geschah, warf sie den Kopf zurück und stieß einen schauerlichen Schrei aus, der unheimlich von den Gebäuden widerhallte. Es war der urtümliche Schrei des Sieges und der ungestillten Wut.

Es war der Schrei eines Tieres, das mehr wollte.

2. Kapitel

Caitlin stand vor ihrer neuen Wohnung, starrte die Tür an und begriff erst langsam, wo sie war. Sie hatte keine Ahnung, wie sie hierhergelangt war. Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war die enge Straße. Irgendwie war es ihr wohl gelungen, nach Hause zu gehen.

Trotz ihres Blackouts erinnerte sie sich an alles, was in dieser engen Gasse passiert war. Sie versuchte, die Bilder aus ihrem Kopf zu vertreiben, aber es funktionierte nicht. Sie betrachtete ihre Arme und Hände, weil sie damit rechnete, dass sie jetzt anders aussahen – doch sie waren ganz normal. Genau so wie immer. Die Wut war in sie gefahren, hatte sie verwandelt und war ebenso schnell wieder verschwunden.

Aber die Nachwirkungen blieben. Sie fühlte sich ausgelaugt und leer, irgendwie benommen. Und sie fühlte noch etwas, aus dem sie nicht schlau wurde. In ihrem Kopf blitzten immer wieder bestimmte Bilder auf, Bilder von den entblößten Hälsen dieser Tyrannen. Von ihren Venen, die im Rhythmus ihres Herzschlags pulsierten. Und sie spürte einen Hunger. Ein heftiges Verlangen.

Eigentlich wollte Caitlin gar nicht nach Hause – sie wollte sich nicht mit der neuen Wohnung und dem Auspacken beschäftigen. Wenn Sam nicht gewesen wäre, hätte sie sich vielleicht einfach umgedreht und wäre gegangen. Sie hatte keine Ahnung, wohin – aber gegangen wäre sie trotzdem.

Doch schließlich atmete sie tief ein und legte die Hand auf den Türknauf. Entweder war der Knauf warm, oder ihre Hand war eiskalt.

Caitlin betrat die hell erleuchtete Wohnung. Sie roch, dass Essen auf dem Herd stand – oder wahrscheinlich eher in der Mikrowelle. Sam. Er kam immer früh nach Hause und machte sich etwas zu essen. Ihre Mom würde erst in einigen Stunden heimkommen.

»Das sieht nicht nach einem tollen ersten Tag aus.«

Verblüfft drehte Caitlin sich um. Ihre Mom war doch schon zu Hause. Sie saß auf der Couch und rauchte eine Zigarette. Wütend musterte sie Caitlin von Kopf bis Fuß.

»Was hast du gemacht? Wie hast du es geschafft, diesen Pulli dermaßen zu ruinieren?«

Caitlin sah an sich hinunter. Die Schmutzflecken waren ihr noch gar nicht aufgefallen; wahrscheinlich waren sie von ihrem Sturz.

»Warum bist du so früh zu Hause?«, wollte Caitlin wissen.

»Für mich war es auch der erste Tag, wie du weißt«, erwiderte ihre Mutter barsch. »Du bist nicht die Einzige. Aber es war nicht genug zu tun, deshalb hat der Chef mich früher nach Hause geschickt.«

Caitlin konnte den fiesen Ton ihrer Mom nicht mehr ertragen. Nicht heute Abend. Eigentlich war sie ihrer Tochter gegenüber immer pampig, doch heute hatte Caitlin die Nase voll davon. Sie beschloss, es ihr mit gleicher Münze heimzuzahlen.

»Super!«, schnauzte sie zurück. »Heißt das, dass wir wieder umziehen werden?«

Ihre Mom sprang auf die Füße. »Hüte deine Zunge!«, schrie sie.

Caitlin wusste, dass ihre Mutter nur auf einen Vorwand gewartet hatte, um sie anzuschreien. Ihr war auch klar, dass es am besten war, das Gespräch schnell zu beenden.

»Du solltest nicht rauchen, wenn Sam in der Nähe ist«, erwiderte Caitlin kühl, ging in ihr winziges Zimmer, knallte die Tür hinter sich zu und schloss ab.

Ihre Mom trommelte gegen die Tür.

»Komm sofort wieder raus, du kleines Luder! Wie sprichst du denn mit deiner Mutter? Wer sorgt denn dafür, dass das Essen auf den Tisch kommt …«