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An diesem Abend war Caitlin so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie die Stimme ihrer Mom ausblenden konnte. Stattdessen ging sie in Gedanken die Ereignisse des Tages noch mal durch: wie diese Kids gelacht hatten, das Geräusch ihres eigenen Herzschlags, ihr eigener brüllender Schrei.

Was genau war geschehen? Wieso hatte sie plötzlich so viel Kraft? Lag es nur an dem Adrenalinstoß? Sie wünschte sich, dass es so wäre. Aber gleichzeitig war ihr klar, dass es nicht allein am Adrenalin gelegen haben konnte. Was war sie?

Das Hämmern an ihrer Tür ging weiter, aber Caitlin hörte es kaum. Ihr Handy lag auf dem Schreibtisch und vibrierte wie verrückt. Es blinkte, weil sie neue Kurzmitteilungen, E-Mails und Facebook-Nachrichten erhalten hatte – aber auch das registrierte sie kaum.

Stattdessen ging zu dem winzigen Fenster und sah hinunter auf die Ecke der Amsterdam Avenue. In ihrem Kopf hörte sie Jonahs Stimme. Seine leise, tiefe, beruhigende Stimme. Und sie sah sein Lächeln. Schnell rief sie sich ins Gedächtnis, wie schlaksig er war, wie zerbrechlich er wirkte. Dann sah sie ihn auf dem Boden liegen, blutend, daneben die Bruchstücke seines kostbaren Instruments. Wieder stieg Zorn in ihr auf.

Doch ihr Zorn schlug in Sorge um – Sorge darum, ob es ihm gut ging, ob er aufgestanden war, ob er es nach Hause geschafft hatte. Sie stellte sich vor, wie er nach ihr rief. Caitlin. Caitlin.

»Caitlin?«

Eine andere Stimme drang durch die Tür. Eine Jungenstimme.

Verwirrt schreckte sie auf.

»Ich bin’s, Sam. Lass mich rein.«

Sie ging zur Tür und lehnte den Kopf dagegen.

»Mom ist weg«, sagte die Stimme auf der anderen Seite. »Sie holt Zigaretten. Komm schon, lass mich rein.«

Sie öffnete die Tür.

Dort stand Sam und starrte sie besorgt an. Er sah älter aus als fünfzehn. Sicher, er war früh gewachsen und hatte schon einen Meter achtzig erreicht, aber das Breitenwachstum stand noch aus. Im Moment war er linkisch und schlaksig. Er hatte schwarze Haare, braune Augen, und sein Teint glich ihrem. Man sah eindeutig, dass sie miteinander verwandt waren. Sie merkte, wie besorgt er war. Er liebte sie über alles.

Schnell ließ sie ihn herein und schloss die Tür direkt wieder.

»Tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Ich kann sie heute Abend einfach nicht ertragen.«

»Was ist zwischen euch beiden denn vorgefallen?«

»Das Übliche. Sie ist bereits in dem Moment auf mich losgegangen, als ich zur Tür reingekommen bin.«

»Ich glaube, sie hatte einen harten Tag«, vermutete Sam. Wie immer versuchte er, Frieden zwischen ihnen zu stiften. »Ich hoffe, sie wird nicht wieder rausgeschmissen.«

»Wen interessiert das? New York, Arizona, Texas … Was spielt es schon für eine Rolle, was als Nächstes kommt? Unsere Umzieherei wird niemals aufhören.«

Sam saß auf ihrem Schreibtischstuhl und runzelte die Stirn. Sofort bekam sie ein schlechtes Gewissen. Manchmal hatte sie wirklich eine scharfe Zunge und redete, ohne nachzudenken; doch jetzt wünschte sie, sie könnte ihre Worte zurücknehmen.

»Wie war denn dein erster Tag?«, fragte sie in dem Versuch, das Thema zu wechseln.

Er zuckte mit den Schultern. »Ich denke, ganz okay.« Seine Füße spielten mit dem Stuhl.

Er sah auf. »Und wie war’s bei dir?«

Sie antwortete ebenfalls mit einem Schulterzucken. Aber etwas an ihrem Gesichtsausdruck erregte seine Aufmerksamkeit, denn er wendete den Blick nicht ab, sondern starrte sie weiter an.

»Was ist passiert?«

»Nichts«, entgegnete sie abwehrend, drehte sich um und ging zurück ans Fenster.

Sie konnte spüren, dass sein Blick ihr folgte.

»Du wirkst … verändert.«

Sie schwieg und fragte sich, ob er etwas wusste oder ob man ihr rein äußerlich eine Veränderung anmerkte. Sie schluckte.

»Wie denn?«

Schweigen.

»Ich weiß nicht«, antwortete er schließlich.

Ziellos starrte sie nach draußen und entdeckte einen Mann vor der Eckkneipe, der einem Kunden ein Beutelchen mit Gras zusteckte.

»Ich hasse es hier«, gestand ihr Bruder.

Sie drehte sich um und sah in sein Gesicht.

»Ich auch.«

»Ich habe sogar schon darüber nachgedacht …«, er senkte die Stimme, »… mich einfach aus dem Staub zu machen.«

»Was willst du damit sagen?«

Er zuckte mit den Schultern.

Sie musterte ihn. Er wirkte richtig niedergeschlagen.

»Wohin willst du denn?«, wollte sie wissen.

»Vielleicht … mache ich mich auf die Suche nach Dad.«

»Wie denn? Wir haben doch keine Ahnung, wo er ist.«

»Ich könnte es versuchen. Vielleicht könnte ich ihn finden.«

»Sam. Nach allem, was wir wissen, könnte er genauso gut tot sein.«

»Sag so was nicht!«, schrie er und lief dunkelrot an.

»Tut mir leid«, entschuldigte sie sich.

Er beruhigte sich wieder.

»Hast du dir schon mal überlegt, dass er uns vielleicht gar nicht sehen will, selbst wenn wir ihn finden? Schließlich hat er uns verlassen. Und er hat nie versucht, wieder Kontakt zu uns aufzunehmen.«

»Vielleicht, weil Mom ihn nicht gelassen hat.«

»Oder vielleicht, weil er uns nicht mag.«

Sams Blick wurde noch finsterer, während er unruhig die Füße hin und her bewegte. »Ich habe ihn auf Facebook gesucht.«

Caitlin riss überrascht die Augen auf.

»Du hast ihn gefunden?«

»Da bin ich mir nicht sicher. Es gab vier Personen mit seinem Namen, und zwei davon haben kein Foto eingestellt. Also habe ich beiden eine Nachricht geschickt.«

»Und?«

Sam schüttelte den Kopf.

»Ich habe noch keine Antwort bekommen.«

»Dad ist bestimmt nicht bei Facebook.«

»Das kannst du gar nicht wissen«, entgegnete er.

Caitlin seufzte, ging zu ihrem Bett und legte sich darauf. Sie starrte an die vergilbte Decke, von der die Farbe bereits abblätterte, und fragte sich, wie es dazu hatte kommen können, dass sie diesen Punkt erreicht hatten. Es hatte Orte gegeben, an denen sie glücklich gewesen waren, sogar Zeiten, als selbst ihre Mom beinahe zufrieden gewirkt hatte. Wie damals, als sie mit diesem Typen zusammen gewesen war. Da war sie zumindest zufrieden genug, um Caitlin in Ruhe zu lassen.

Es hatte Städtchen gegeben, wie beispielsweise ihren letzten Wohnort, wo sowohl Sam als auch Caitlin echte Freunde gefunden hatten. Beinahe hatte es so ausgesehen, als könnten sie tatsächlich auch dort bleiben – zumindest lange genug, um ihren Schulabschluss zu machen. Doch dann hatte sich ganz schnell alles wieder verändert. Koffer packen, Abschied nehmen … War es etwa zu viel verlangt, sich eine normale Kindheit zu wünschen?

»Ich könnte nach Oakville zurückgehen«, meinte Sam unvermittelt und unterbrach damit ihre Gedanken. Oakville war ihr letzter Wohnort gewesen. Irgendwie war es verblüffend, dass er immer ihre Gedanken lesen konnte. »Ich könnte bei Freunden wohnen.«

Der Tag wuchs ihr allmählich über den Kopf. Es war einfach zu viel. Sie konnte nicht mehr klar denken, und weil sie so frustriert war, verstand sie bloß, dass Sam sie auch noch im Stich lassen wollte. Anscheinend bedeutete sie ihm nicht mehr wirklich etwas.

»Dann geh doch!«, schnauzte sie ihn an, ohne es zu wollen. Es war, als hätte jemand anderes für sie gesprochen. Als sie merkte, wie barsch sie geklungen hatte, bedauerte sie ihre Unbeherrschtheit sofort.

Warum bloß musstest du so damit herausplatzen? Warum hast du dich nicht besser unter Kontrolle?

Wenn sie in einer besseren Stimmung gewesen wäre, wenn sie ruhiger gewesen wäre und wenn nicht so viel gleichzeitig auf sie eingestürmt wäre, wäre ihr das sicher nicht passiert. Dann wäre sie freundlicher gewesen.

Sie hätte zum Beispiel etwas gesagt wie: Ich weiß, dass du niemals abhauen würdest, egal, wie schlimm es kommt, weil du mich nicht allein lassen würdest. Dafür liebe ich dich. Und natürlich würde ich dich auch nicht im Stich lassen. Trotz unserer verkorksten Kindheit haben wir wenigstens immer noch uns.