Stattdessen hatte sie sich von ihrer schlechten Laune leiten lassen. Stattdessen hatte sie egoistisch reagiert und ihn angeschnauzt.
Sie setzte sich auf. An seinem Gesichtsausdruck konnte sie erkennen, wie verletzt er war. Gerne hätte sie ihre Worte zurückgenommen und ihm gesagt, dass es ihr leidtat, aber sie war schlichtweg überfordert. Irgendwie schaffte sie es nicht, den Mund aufzumachen.
Still stand Sam auf, verließ den Raum und schloss leise die Tür hinter sich.
Du blöde Kuh, dachte sie. Du bist so eine Idiotin. Warum musst du ihn genauso behandeln, wie Mom dich behandelt?
Sie legte sich zurück und starrte wieder an die Decke. Auf einmal begriff sie, dass es noch einen anderen Grund für ihre barsche Reaktion gab. Er hatte ihren Gedankengang unterbrochen, und das genau zu dem Zeitpunkt, als sie zu den schlechten Dingen kam. Eine dunkle Erinnerung war ihr durch den Kopf geschossen, und Sam war dazwischengekommen, bevor sie den Gedanken hatte festhalten können.
Es ging um den Exfreund ihrer Mom. Am vorvorletzten Wohnort. Zu der Zeit hatte Mom tatsächlich glücklich gewirkt, ein einziges Mal. Frank. Fünfzig. Klein, untersetzt, beginnende Glatze. Er roch immer nach billigem Rasierwasser. Damals war Caitlin sechzehn gewesen.
Sie hatte in der winzigen Waschküche gestanden und ihre Wäsche zusammengelegt, als plötzlich Frank in der Tür auftauchte. Er war ein ekliger Typ, ständig starrte er sie an. Er hob ein Unterhöschen von ihr auf und hielt es grinsend hoch. Sie spürte, wie ihr vor Verlegenheit und Zorn das Blut ins Gesicht schoss.
»Das hast du fallen lassen«, meinte er, und sein Grinsen wurde noch breiter. Sie riss ihm ihre Unterwäsche aus der Hand.
»Was willst du?«, fuhr sie ihn an.
»Redet man so mit seinem neuen Stiefvater?«
Er machte einen halben Schritt auf sie zu.
»Du bist nicht mein Stiefvater.«
»Aber ich werde es sein – und zwar bald.«
Sie versuchte, sich wieder auf die Wäsche zu konzentrieren, aber er kam noch näher. Zu nahe. Ihr Herz schlug heftig.
»Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir beide uns ein bisschen besser kennenlernen«, sagte er dann und öffnete dabei seinen Gürtel. »Findest du nicht auch?«
Entsetzt versuchte sie, sich an ihm vorbeizuquetschen. Sie wollte flüchten, aber er versperrte ihr den Weg, packte sie grob und drückte sie gegen die Wand.
Und da geschah es.
Sie kochte vor Wut. So wütend war sie noch nie gewesen. Sie spürte, wie ihr von Kopf bis Fuß heiß wurde. Als er noch näher kam, sprang sie in die Höhe und trat ihm mit beiden Füßen gegen die Brust.
Obwohl sie nicht einmal halb so viel wog wie er, flog er rückwärts durch die Tür, riss sie dabei aus den Angeln und landete drei Meter weiter im Nebenzimmer. Es war, als wäre er von einer Kanonenkugel durchs Haus geschossen worden.
Zitternd blieb Caitlin stehen. Sie war kein gewalttätiger Mensch, noch nie hatte sie jemanden geschlagen. Außerdem war sie weder groß noch stark. Woher hatte sie also gewusst, wie sie ihn treten musste? Woher war auf einmal die Kraft gekommen? Noch nie hatte sie jemanden durch die Luft fliegen und eine Tür zerschmettern sehen – schon gar nicht einen erwachsenen Mann –, also woher war die Kraft dazu gekommen?
Sie ging zu ihm und starrte auf ihn hinunter.
Er lag bewusstlos auf dem Rücken. Sie fragte sich, ob sie ihn umgebracht hatte. Aber gleichzeitig kochte in ihr immer noch die Wut, sodass es ihr gleichgültig war. Eher machte sie sich Sorgen um sich selbst. Wer – oder was – war sie eigentlich?
Frank sah sie nie wieder. Am folgenden Tag machte er mit ihrer Mom Schluss und kam nie zurück. Zwar hegte ihre Mom den Verdacht, dass zwischen ihnen beiden etwas vorgefallen war, aber Caitlin sagte kein Wort. Trotzdem machte ihre Mom Caitlin für die Trennung verantwortlich. Sie warf ihr vor, die einzige glückliche Zeit in ihrem Leben zerstört zu haben. Seitdem hatte sie nicht aufgehört, ihr Vorwürfe zu machen.
Caitlin starrte an die Decke, und ihr Herz pochte wieder heftig. Sie dachte an die Wut, die sie heute erfasst hatte, und fragte sich, ob es einen Zusammenhang zwischen den beiden Vorfällen gab. Sie war immer davon ausgegangen, dass die Sache mit Frank nur ein verrückter, einmaliger Zwischenfall gewesen war, ein plötzlicher, merkwürdiger Kraftausbruch. Aber jetzt fragte sie sich, ob vielleicht doch mehr dahintersteckte. War da irgendeine besondere Kraft in ihr? War sie nicht normal? War sie verrückt?
Wer war sie?
3. Kapitel
Caitlin rannte. Die Schläger waren zurück, und sie jagten sie die Straße entlang. Vor ihr lag eine Sackgasse, die vor einer massiven Mauer endete, aber sie lief trotzdem weiter, direkt darauf zu. Sie wurde immer schneller, unglaublich schnell, und die Häuser flogen nur so an ihr vorbei. Der Wind wehte durch ihre Haare.
Als sie der Mauer immer näher kam, sprang sie, und mit einem einzigen Satz stand sie oben, in fast zehn Metern Höhe. Ein weiterer Sprung, und wieder flog sie meterweit durch die Luft. Diesmal landete sie auf dem Asphalt, allerdings ohne aus dem Rhythmus zu geraten. Sie rannte und rannte. Dabei fühlte sie sich stark und unbesiegbar. Ihre Geschwindigkeit erhöhte sich weiter, und sie hatte das Gefühl, fliegen zu können.
Als sie nach unten sah, wurde der Asphalt vor ihren Augen zu Gras – hohem, schwankendem grünem Gras. Sie durchquerte eine Prärie, die Sonne schien, und sie erkannte die Gegend als die Heimat ihrer frühen Kindheit.
Sie spürte, dass in der Ferne am Horizont ihr Vater stand. Sie näherte sich ihm; sah ihn jetzt deutlicher. Er hatte die Arme weit ausgebreitet und strahlte über das ganze Gesicht.
Sie sehnte sich danach, ihn wiederzusehen, und rannte mit aller Kraft.
Doch plötzlich stürzte sie.
Ein riesiges, mittelalterliches Portal öffnete sich, und sie betrat eine Kirche. Sie ging einen schwach beleuchteten Gang entlang, an dessen beiden Seiten Fackeln brannten. Vor dem Altar kniete ein Mann mit dem Rücken zu ihr. Als sie sich ihm näherte, erhob er sich und drehte sich um.
Es war ein Priester. Er sah sie an und erblasste vor Furcht. Sie spürte das Blut in ihren Adern fließen und sah sich selbst dabei zu, wie sie auf den Mann zuging. Sie war nicht in der Lage, stehen zu bleiben. Voller Furcht streckte er ihr ein Kreuz entgegen.
Doch sie stürzte sich trotzdem auf ihn. Dabei merkte sie, wie ihre Zähne länger wurden – zu lang –, und sie sah, wie sie sich in den Hals des Priesters bohrten.
Er schrie gellend auf, aber das war ihr egal. Sie spürte, wie sein Blut durch ihre Zähne hindurch und in ihre Venen strömte, und es war das großartigste Gefühl ihres Lebens.
Caitlin setzte sich ruckartig im Bett auf und atmete heftig. Orientierungslos sah sie sich um. Grelles Sonnenlicht strömte herein.
Endlich begriff sie, dass sie nur geträumt hatte. Sie wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn und schwang die Beine aus dem Bett.
Stille. Dem Sonnenstand nach zu urteilen, mussten Sam und ihre Mom die Wohnung bereits verlassen haben. Sie warf einen Blick auf die Uhr und sah, dass es in der Tat schon spät war: acht Uhr fünfzehn. Sie würde an ihrem zweiten Schultag zu spät kommen.
Super.
Es wunderte sie, dass Sam sie nicht geweckt hatte. In all den Jahren hatte er sie nie verschlafen lassen – immer hatte er sie geweckt, wenn er vor ihr aus dem Haus musste.
Er ist sicher noch sauer wegen gestern Abend.
Sie sah auf ihr Handy, aber es war tot. Offensichtlich hatte sie vergessen, den Akku aufzuladen. Auch gut. Sie hatte ohnehin keine Lust, sich mit jemandem zu unterhalten.
Schnell zog sie sich an und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Normalerweise würde sie ohne Frühstück aufbrechen, aber an diesem Morgen hatte sie Durst. Ungewöhnlich großen Durst. Also ging sie zum Kühlschrank und nahm einen Zweiliterkarton roten Grapefruitsaft heraus. Hektisch riss sie den Verschluss auf und trank direkt aus dem Tetrapak. Sie hörte nicht auf, bis sie die zwei Liter Saft komplett in sich hineingeschüttet hatte.