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Verblüfft betrachtete sie den Getränkekarton. Hatte sie ihn wirklich gerade komplett leer getrunken? Normalerweise trank sie nie mehr als ein halbes Glas auf einmal. Mit einer Hand zerdrückte sie die Packung und formte eine kleine Kugel daraus. Sie verstand nicht, woher diese neu entdeckte Kraft kam, die in ihren Adern zirkulierte. Es war aufregend. Und unheimlich.

Doch sie war immer noch durstig. Und hungrig. Aber sie hatte kein Verlangen nach Essen. Ihre Adern wollten mehr, aber sie begriff nicht, was dieses Mehr war.

* * *

Irgendwie war es seltsam, die Flure ihrer Schule so leer zu sehen. Es war das genaue Gegenteil von gestern. Während des Unterrichts war keine Menschenseele zu entdecken. Sie sah auf ihre Uhr; es war acht Uhr vierzig. Bis die dritte Unterrichtsstunde begann, dauerte es noch eine Viertelstunde. Sie fragte sich, ob es sich überhaupt lohnte, in die Klasse zu gehen, aber sie wusste auch nicht, wohin sie sonst gehen sollte. Also folgte sie den Raumnummern bis zu ihrem Klassenzimmer.

Vor dem Raum blieb sie stehen und lauschte, ob sie die Stimme des Lehrers hören konnte. Sie zögerte. Eigentlich hasste sie es, reinzuplatzen und im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Aber ihr blieb keine andere Wahl.

Sie holte tief Luft und drehte den Türknopf.

Als sie eintrat, drehten sich alle zu ihr um und starrten sie an, einschließlich der Lehrerin.

Schweigen.

»Miss …« Der Lehrerin fiel ihr Name nicht ein, und sie ging zu ihrem Pult und nahm einen Zettel in die Hand. »Miss Paine. Das neue Mädchen. Sie sind fünfundzwanzig Minuten zu spät.«

Die Lehrerin, eine strenge ältere Frau, musterte Caitlin verärgert. »Was haben Sie zu Ihrer Entschuldigung vorzubringen?«

Caitlin zögerte.

»Es tut mir leid?«

»Das reicht nicht. Möglicherweise ist es dort, wo Sie herkommen, zulässig, zu spät zu kommen – hier ist das ganz gewiss unakzeptabel.«

»Inakzeptabel«, korrigierte Caitlin und bereute es sofort.

Peinliches Schweigen senkte sich über den Raum.

»Wie bitte?«, erwiderte die Lehrerin langsam.

»Sie haben gesagt unakzeptabel. Sie meinten inakzeptabel.«

»ACH DU SCHEISSE!«, rief ein vorlauter Junge in einer der hinteren Reihen, und die ganze Klasse brach in Gelächter aus.

Das Gesicht der Lehrerin wurde feuerrot.

»Sie freche Göre! Melden Sie sich sofort beim Direktor!«

Die Lehrerin marschierte zu Caitlin und öffnete die Tür. Dort stand sie nun, nur wenige Zentimeter von ihr entfernt – so dicht, dass Caitlin ihr billiges Parfum riechen konnte. »Raus aus meinem Klassenzimmer!«

Normalerweise wäre Caitlin aus dem Raum geschlichen – sie hätte auch niemals einen Lehrer korrigiert. Aber irgendetwas hatte sich verändert, etwas, das sie nicht ganz verstand. Auf einmal fühlte sie Trotz. Sie hatte nicht mehr das Gefühl, dass sie jedem gegenüber Respekt zeigen musste. Und vor allem hatte sie keine Angst mehr.

Also blieb Caitlin einfach stehen, ignorierte die Lehrerin, blickte sich suchend um und hielt Ausschau nach Jonah. Der Raum war überfüllt, und sie suchte eine Reihe nach der anderen aufmerksam ab. Keine Spur von Jonah.

»Miss Paine! Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe!?«

Herausfordernd erwiderte Caitlin ihren Blick. Dann drehte sie sich um und verließ ganz gemächlich das Klassenzimmer.

Hinter ihr wurde die Tür zugeschlagen, dann war gedämpftes Geschrei zu hören, gefolgt von einem »Ruhe bitte!«.

Caitlin wanderte den leeren Flur entlang; sie wusste nicht wirklich, wohin sie gehen sollte.

Dann hörte sie Schritte. In der Ferne tauchte ein Mann vom Sicherheitsdienst auf und kam direkt auf sie zu.

»Ausweis!«, blaffte er sie an, als er nur noch gut zehn Meter von ihr entfernt war.

»Bitte?«, fragte sie.

Er kam näher.

»Wo ist Ihr Ausweis? Sie sollen ihn ständig sichtbar bei sich tragen.«

»Welchen Ausweis?«

Er blieb stehen und musterte sie. Er war ein hässlicher, gemein aussehender Mann mit einem riesigen Muttermal auf der Stirn.

»Sie können nicht durch die Flure spazieren, ohne einen unterschriebenen Ausweis bei sich zu haben. Das wissen Sie. Wo ist er?«

»Ich wusste nicht …«

Er nahm sein Funkgerät und sprach hinein: »Verstoß gegen die Ausweispflicht in Flügel 14. Ich bringe sie jetzt in Verwahrung.«

»Verwahrung?«, fragte Caitlin verwirrt. »Was haben Sie vor …«

Grob griff er nach ihrem Arm und zerrte sie den Flur entlang.

»Kein Wort mehr!«, fauchte er.

Caitlin gefiel es nicht, dass seine Finger sich in ihren Arm gruben und dass sie abgeführt wurde wie ein unartiges Kind. Sie spürte, wie sich die Hitze in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Die Wut kündigte sich an. Ihr war nicht ganz klar, woher sie das wusste, aber so war es: In wenigen Augenblicken würde sie ihren Zorn nicht mehr unter Kontrolle haben – ebenso wenig wie ihre Kraft.

Sie musste etwas tun, bevor es zu spät war. Sie setzte ihre gesamte Willenskraft ein, damit es aufhörte. Aber solange seine Finger sie berührten, würde es nicht funktionieren.

Schnell schüttelte sie seinen Arm ab, bevor die volle Kraft von ihr Besitz ergreifen konnte. Seine Hand flog regelrecht weg, und er stolperte ein paar Schritte rückwärts.

Verblüfft starrte er sie an. Wie war es möglich, dass ein Mädchen ihrer Größe ihn mehrere Schritte durch den Flur befördert hatte, obwohl sie nur leicht mit dem Arm gezuckt hatte? Er schwankte zwischen Empörung und Furcht. Sie erkannte, dass er überlegte, ob er sie angreifen oder in Ruhe lassen sollte. Schließlich legte er die Hand auf seinen Gürtel, an dem eine große Dose Pfefferspray hing.

»Wenn du mich noch einmal anfasst, junge Dame«, sagte er voller kalter Wut, »werde ich das Pfefferspray einsetzen.«

»Dann lassen Sie die Finger von mir!«, entgegnete sie herausfordernd. Der Klang ihrer eigenen Stimme bestürzte sie – er hatte sich verändert: Ihre Stimme war tiefer und rauer.

Langsam nahm der Mann die Hand von der Spraydose. Offenbar gab er nach.

»Geh vor mir her«, forderte er sie auf. »Den Flur entlang und die Treppe hinauf.«

Der Wachmann ließ sie in einem Vorraum vor dem Büro des Direktors zurück. Sein Funkgerät meldete sich, und er hastete eilig davon. Aber dann drehte er sich noch einmal kurz um und blaffte sie an: »Lass dich bloß nicht wieder irgendwo auf den Gängen blicken!«

Caitlin wandte sich um und sah, dass dort rund fünfzehn Schüler und Schülerinnen aller Altersklassen herumsaßen und -standen, die offensichtlich alle zum Direktor mussten. Sie wirkten alle wie Außenseiter. Einer nach dem anderen wurde hereingerufen. Ein Wachmann passte auf, aber er schlief beinahe im Stehen ein.

Caitlin hatte keine Lust, hier den halben Tag lang zu warten – und sie hatte auch nicht die geringste Lust, den Direktor kennenzulernen. Sie hätte nicht zu spät kommen dürfen, das stimmte, aber das hier verdiente sie nicht. Sie hatte die Schnauze voll.

Die Tür zum Gang ging auf, und ein Sicherheitsmann zerrte drei weitere Schüler hinein, die kämpften und sich gegenseitig schubsten. In dem kleinen Wartebereich, der völlig überfüllt war, entstand ein Tumult. Dann ertönte der Gong, und die Gänge hinter den Glastüren füllten sich. Jetzt herrschte drinnen und draußen Chaos.

Caitlin wartete auf ihre Chance. Als die Tür sich wieder öffnete, drückte sie sich an einem Schüler vorbei und schlüpfte auf den Flur hinaus.

Dort warf sie einen kurzen Blick über die Schulter, aber niemand hatte sie bemerkt. Schnell quetschte sie sich durch die Menge und bog um eine Ecke. Wieder warf sie einen Blick zurück, aber immer noch folgte ihr niemand.

Sie war in Sicherheit. Selbst wenn den Sicherheitsleuten ihre Abwesenheit auffallen sollte – was sie allerdings stark bezweifelte, da nicht einmal ihre Daten aufgenommen worden waren –, wäre sie bereits zu weit weg, um erwischt zu werden. Sie eilte noch schneller durch die Flure und vergrößerte so den Abstand weiter. Sie war unterwegs zur Cafeteria. Sie musste Jonah finden, denn sie wollte unbedingt wissen, ob es ihm gut ging.