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Die Cafeteria war auch heute wieder überfüllt, und sie schritt die Gänge ab, um nach ihm Ausschau zu halten. Nichts. Sie wiederholte ihren Rundgang und ließ ihren Blick über jeden Tisch schweifen, aber sie fand ihn nicht.

Sie bereute es, dass sie nicht zu ihm zurückgekehrt war, um nach seinen Verletzungen zu sehen und einen Rettungswagen zu rufen. Sie fragte sich, ob er wohl schwer verletzt war. Vielleicht lag er sogar im Krankenhaus. Vielleicht würde er gar nicht mehr in die Schule zurückkommen.

Deprimiert nahm sie sich ein Tablett mit Essen und fand einen Tisch, von dem aus sie die Tür gut im Blick hatte. Sie aß kaum etwas, sondern musterte jeden Schüler, der hereinkam.

Aber er tauchte nicht auf.

Schließlich klingelte es, und die Cafeteria leerte sich. Sie blieb sitzen und wartete.

Nichts.

* * *

Zum letzten Mal an diesem Schultag ertönte der Gong, und Caitlin stand vor dem ihr zugewiesenen Spind. Sie gab die Zahlenkombination ein, die auf dem Blatt Papier in ihrer Hand stand, drehte an dem Knauf und zog. Es funktionierte nicht. Also gab sie die Kombination noch einmal ein. Diesmal ging die Tür auf.

Sie starrte in den leeren Metallspind. Die Innenseite der Tür war voller Graffiti. Ansonsten war der Schrank völlig kahl. Bedrückend. Sie dachte an die anderen Schulen, wo sie immer sofort ihren Spind gesucht und sich die Kombination eingeprägt hatte. Dort hatte sie die Türen mit Fotos von Jungs aus Hochglanzmagazinen beklebt. Das war ihre Art gewesen, sich häuslich einzurichten, einen vertrauten Ort in der Schule zu finden.

Aber irgendwann im Laufe der Zeit hatte ihre Begeisterung nachgelassen. Sie fragte sich allmählich, warum sie sich noch die Mühe machen sollte, da es doch bloß eine Frage der Zeit war, bis sie wieder umziehen musste. Also ließ sie sich immer mehr Zeit mit dem Dekorieren ihres Spinds.

Diesmal würde sie sogar ganz darauf verzichten. Mit einem lauten Knall warf sie die Tür zu.

»Caitlin?«

Sie fuhr zusammen.

Direkt neben ihr stand Jonah.

Er trug eine große Sonnenbrille, und die Haut darunter sah geschwollen aus.

Als sie ihn so dort stehen sah, war sie verwirrt – und sie freute sich wahnsinnig. Es überraschte sie, wie sehr sie sich freute. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus, und ihr Mund wurde trocken.

Es gab so viel, was sie ihn fragen wollte: Bist du gut nach Hause gekommen? Hast du diese Schläger noch mal gesehen? Hast du gemerkt, dass ich da war … Aber irgendwie schafften die Worte es nicht von ihrem Gehirn bis zu ihrem Mund.

Ein »Hallo« war alles, was sie herausbekam.

Er starrte sie an. Es sah aus, als ob er nicht wusste, womit er anfangen sollte.

»Ich habe dich heute im Unterricht vermisst«, sagte sie und bereute sofort ihre Wortwahl.

Dämlich. Du hättest sagen sollen: »Ich habe dich nicht im Unterricht gesehen.« »Vermisst« klingt verzweifelt.

»Ich bin zu spät gekommen«, erklärte er.

»Ich auch.«

Unbehaglich trat er von einem Fuß auf den anderen. Sie stellte fest, dass er seine Bratsche nicht dabeihatte. Also war es wirklich geschehen. Es war nicht bloß ein böser Traum gewesen.

»Bist du okay?«, fragte sie.

Sie deutete auf seine Sonnenbrille.

Langsam nahm er sie ab.

Sein Gesicht war voller Blutergüsse und dick angeschwollen. An seiner Stirn und unter einem Auge klebten Pflaster.

»Mir ging’s schon mal besser«, sagte er. Er wirkte verlegen.

»Oh mein Gott!«, stieß sie hervor und fühlte sich schrecklich. Ihr war klar, dass sie froh darüber sein sollte, dass sie ihm geholfen und ihn vor Schlimmerem bewahrt hatte. Aber stattdessen hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht früher dort gewesen war und sich später nicht um ihn gekümmert hatte. Aber nachdem … es passiert war, hatte sich alles in einer Art Nebel abgespielt. Sie konnte sich nicht einmal richtig daran erinnern, wie sie nach Hause gekommen war. »Es tut mir so leid.«

»Hast du gehört, was passiert ist?«, wollte er wissen.

Er sah sie mit seinen strahlenden grünen Augen aufmerksam an, und sie hatte das Gefühl, als ob er sie auf die Probe stellte. Als ob er erreichen wollte, dass sie zugab, dort gewesen zu sein.

Hatte er sie etwa gesehen? Das konnte doch eigentlich nicht sein. Schließlich war er bewusstlos gewesen. Oder etwa nicht? Hatte er vielleicht beobachtet, was danach vorgefallen war? Sollte sie besser zugeben, dass sie dort gewesen war?

Einerseits brannte sie darauf, ihm zu erzählen, wie sie ihm geholfen hatte, denn dann wäre er ihr sicher dankbar. Andererseits konnte sie ihm auf gar keinen Fall erklären, was sie getan hatte, ohne als Lügnerin oder Sonderling dazustehen.

Nein, beschloss sie für sich. Du kannst es ihm nicht sagen. Es geht nicht.

»Nein«, log sie. »Vergiss nicht, dass ich hier ja niemanden kenne.«

Es folgte eine Pause.

»Ich wurde angegriffen«, erklärte er dann. »Auf dem Nachhauseweg von der Schule.«

»Es tut mir so leid«, versicherte sie noch einmal. Sie klang wie eine Idiotin, die immer wieder denselben dummen Satz wiederholt, aber sie wollte nichts sagen, was zu viel verraten könnte.

»Ja, mein Dad ist ziemlich sauer«, fuhr er fort. »Sie haben mir meine Bratsche weggenommen.«

»Das ist echt übel. Wirst du eine neue bekommen?«

Jonah schüttelte langsam den Kopf. »Er hat Nein gesagt. Das könne er sich nicht leisten. Und ich hätte besser darauf aufpassen sollen.«

Caitlin war betroffen. »Aber ich dachte, du hättest gesagt, die Bratsche wäre deine Fahrkarte, um von dieser Schule wegzukommen.«

Er zuckte mit den Schultern.

»Was wirst du jetzt machen?«, fragte sie.

»Das weiß ich nicht.«

»Vielleicht findet die Polizei deine Bratsche wieder.« Sie erinnerte sich natürlich daran, dass sie zerstört worden war, aber sie dachte, so könnte sie vielleicht beweisen, dass sie von nichts wusste.

Er betrachtete sie wieder aufmerksam, als wollte er sich ein Urteil darüber bilden, ob sie log.

Schließlich erwiderte er: »Sie haben sie zertrümmert.« Dann machte er eine Pause. »Vermutlich haben manche Menschen einfach das Bedürfnis, Dinge zu zerstören.«

»Ach du meine Güte«, sagte sie, »das ist ja schrecklich.«

»Mein Dad ist sauer, weil ich mich nicht gewehrt habe … Aber so bin ich eben nicht.«

»Was für Mistkerle. Vielleicht erwischen die Bullen sie ja.«

Ein schwaches Grinsen huschte über Jonahs Gesicht. »Das ist ja das Seltsame an der ganzen Sache: Sie haben schon bekommen, was sie verdienen.«

»Wie meinst du das?«, fragte sie und versuchte, überzeugend zu klingen.

»Ich habe diese Typen kurz danach in einer Sackgasse gefunden. Sie waren noch schlimmer zugerichtet als ich. Nicht mal mehr gerührt haben sie sich.« Sein Grinsen wurde breiter. »Jemand muss sie sich vorgeknöpft haben. Vielleicht gibt es tatsächlich einen Gott.«

»Das ist ja seltsam«, meinte sie.

»Vielleicht habe ich auch einen Schutzengel.« Wieder musterte er sie gründlich.

»Ja, vielleicht«, entgegnete sie.

Er starrte sie noch lange an, als warte er auf eine Erklärung oder einen Hinweis von ihr. Doch sie schwieg.

»Da ist noch etwas, das noch seltsamer ist«, fuhr er schließlich fort.

Er bückte sich, zog etwas aus seinem Rucksack und hielt es ihr hin.

»Das habe ich gefunden.«

Schockiert starrte sie auf den Gegenstand in seiner Hand. Es war ihr Tagebuch.

Als sie es entgegennahm, schoss ihr das Blut ins Gesicht. Einerseits war sie hocherfreut, es wiederzuhaben, andererseits aber auch entsetzt, weil er einen Beweis dafür hatte, dass sie dort gewesen war. Er musste sich sicher sein, dass sie gelogen hatte.

»Dein Name steht drin. Es gehört doch dir, oder?«

Sie nickte und untersuchte das Tagebuch. Es war alles da. Das Buch hatte sie völlig vergessen.

»Da waren auch einige lose Blätter. Ich habe sie alle eingesammelt und hineingelegt. Ich hoffe, ich habe alle gefunden«, erklärte er.