Выбрать главу

Für Jilly (L’amore della mia vita)

Jay Bonansinga

Dies ist all denjenigen gewidmet,

die mich über die Jahre viel talentierter

haben erscheinen lassen, als ich es tatsächlich bin:

Charlie Adlard, Cory Walker, Ryan Ottley,

Jason Howard und selbstverständlich …

Mister Jay Bonansinga.

Robert Kirkman

TEIL 1

Anbruch des Roten Tages

Das Leben ist viel

schmerzhafter als der Tod.

Jim Morrison

Eins

Niemand auf der Lichtung bemerkt, wie die Beißer zwischen den hohen Bäumen näher kommen.

Das metallene Klirren und Scheppern von Zeltstangen, die in Georgias kalten, widerspenstigen Lehmboden gerammt werden, übertönen die noch fernen Schritte. Die Meute befindet sich noch einen halben Kilometer entfernt inmitten der Schatten des angrenzenden Kiefernwalds. Der Nordwind tut das Seine, um das Brechen der Äste oder das verräterische, kehlige Stöhnen hinter den Baumwipfeln zu vertuschen. Noch nimmt niemand den schwachen Gestank des verwesenden Fleisches und des fauligen, in Fäkalien marinierten Schimmels wahr. Der Duft von herbstlichem Holzfeuer und verrottendem Obst, der in der mittäglichen Luft liegt, kaschiert den Geruch der lebendigen Toten.

Tatsächlich nimmt kein Einziger der Bewohner des Lagerplatzes irgendeine unmittelbare Gefahr wahr – die meisten Überlebenden sind damit beschäftigt, mit Eisenbahnschwellen, Telefonmasten und rostigen Bewehrungsstäben Unterkonstruktionen für ihre Zelte aufzubauen.

»Es ist zum Heulen … Schaut mich nur an«, stöhnt die schlanke junge Frau mit Pferdeschwanz. Ungelenk hockt sie an der nordwestlichen Ecke des Lagers vor einer mit Farbe bespritzten Zeltplane, die zu einem Quadrat zusammengelegt ist. Sie zittert trotz ihres GEORGIA-INSTITUTE-OF-TECHNOLOGY-Sweatshirts und der zerrissenen Jeans. Das Einzige, was sie sonst noch trägt, ist alter Schmuck. Mit ihrem roten Gesicht, das mit Sommersprossen übersät ist, und ihren langen dunkelbraunen Haaren, in denen sich kleine Federn in den Strähnen verfangen haben, ist Lilly Caul ein nervöses Wrack. Zudem weist sie noch eine Reihe von Macken auf, angefangen mit ihrer Gewohnheit, sich ständig die wild umherfliegenden Haarbüschel hinter die Ohren zu streichen bis hin zu ihrem zwanghaften Kauen der Fingernägel. Jetzt umklammert sie mit ihren kleinen Händen einen Vorschlaghammer und versucht, einen Metallpfahl in die Erde zu rammen, aber sie rutscht ständig ab, als ob er mit Fett eingeschmiert wäre.

»Ist schon gut, Lilly. Immer mit der Ruhe«, sagt der große Mann, der hinter ihr steht und ihr zusieht.

»Sogar eine Zweijährige könnte das hier hinkriegen!«

»Jetzt hör doch auf, dich ständig runterzumachen.«

»Mich will ich ja gar nicht runtermachen.« Sie holt erneut aus, umklammert den Hammer mit beiden Händen, rutscht aber erneut ab. »Dieser verdammte Pfahl soll kleiner werden!«

»Du hältst ihn falsch.«

»Was?«

»Nimm den Vorschlaghammer am Ende, nicht so hoch am Kopf. Lass das Werkzeug die Arbeit für dich tun.«

Erneute Schläge.

Der Pfahl trifft auf einen Stein, schnellt aus dem Grund und landet ein gutes Stück entfernt von ihr auf dem Boden.

»Verdammt! Verdammt!« Lilly haut mit dem Hammer in die Erde, starrt genervt zu Boden und atmet wild.

»Du machst das schon ganz gut, Kleines. Hier, ich zeig es dir.«

Der große Mann stellt sich neben sie, kniet sich hin und nimmt ihr sanft den Hammer ab. Lilly zuckt zurück, will das Werkzeug nicht aus den Händen geben. »Lass mich noch mal, okay? Ich schaffe das schon, ich schaffe das«, wiederholt sie, und ihre schmalen Schultern spannen sich unter dem Sweatshirt an.

Sie schnappt sich einen weiteren Pfahl und beginnt, vorsichtig auf das metallene Ende zu hämmern. Der Boden gibt nicht nach, ist zäh wie Zement. Es ist bisher ein kalter Oktober gewesen, und die brachliegenden Felder südlich von Atlanta sind zu Stein geworden. Nicht, dass das unbedingt schlimm ist. Der gefrorene Lehm ist porös und trocken – zumindest für den Augenblick –, und deshalb haben sie sich entschieden, hier ihr Lager aufzuschlagen. Der nächste Winter kommt bestimmt, und die bunt zusammengewürfelte Truppe hält sich bereits seit über einer Woche an diesem Ort auf. Sie will ihn zu ihrer vorübergehenden Heimat machen, will sich von den Strapazen erholen und ihre Zukunft planen. Wenn sie denn überhaupt eine Zukunft hat.

»Du musst den Kopf einfach drauffallen lassen«, meint der kräftige Afroamerikaner und tut so, als ob er den Vorschlaghammer in seinen gewaltigen Händen hält. Er hat solche Pranken, dass er ohne Probleme ihren ganzen Kopf ergreifen könnte. »Lass die Schwerkraft und das Gewicht des Hammers die Arbeit für dich machen.«

Lilly muss sich ganz schön zusammenreißen, um nicht auf die Arme des Mannes zu starren, wie sie auf und ab schwingen. Selbst in geduckter Haltung und mit seinem ärmellosen Denim-Hemd und der schäbigen Daunenweste bietet Josh Lee Hamilton einen imposanten Anblick. Obwohl er mit seinen mächtigen Schultern, Beinen wie Baumstämmen und einem muskulösen Hals gebaut ist wie ein American-Football-Spieler, ist er durchaus imstande, sich elegant zu bewegen. Seine traurigen, langen Wimpern, ehrerbietigen Augenbrauen und die sich immer wieder in Falten legende Stirn unter seinem kahl werdenden Kopf lassen ihn unerwartet sympathisch, beinahe weich erscheinen. »Das ist gar nicht so schlimm … Siehst du?« Er zeigt es ihr erneut, und sein entblößter tätowierter Bizeps, so groß wie ein Steak, zuckt, während er einen imaginären Vorschlaghammer durch die Luft schwenkt. »Verstehst du, was ich meine?«

Lilly wendet ihren Blick etwas verlegen von seinem angespannten Arm ab. Jedes Mal wenn sie seine Muskeln sieht, verspürt sie einen kleinen Anflug von Schuldgefühlen. Obwohl sie schon so lange miteinander durch dieses Höllenloch gereist sind, das manche Einheimische »Die Wende« nennen, hat Lilly stets penibel darauf geachtet, nicht intim mit Josh zu werden. Am besten, sie würden die Beziehung platonisch halten, brüderlich, schwesterlich, beste Kumpels, aber nicht mehr. Am besten, wenn sie sich an die Tagesordnung hielten … insbesondere inmitten dieser Plage.

Aber das hält Lilly nicht davon ab, den großen Mann kokett von der Seite anzulächeln, wenn er sie seine »Freundin« oder »Kleines« nennt … oder wenn er sich nachts, während sie in ihren Schlafsack kriecht, darum bemüht, einen Blick von dem chinesischen Zeichen zu erhaschen, das sie als Tattoo über ihrem Hintern trägt. Spielt sie mit ihm? Manipuliert sie ihn etwa, dass er sie weiterhin beschützt? Die rhetorische Frage bleibt für Lilly Caul unbeantwortet.

Die Glut der Furcht glimmt schon immer in Lilly. Sie ist es, die langsam aber sicher sämtliche ethischen Gesichtspunkte sowie angemessenes soziales Verhalten stetig aushöhlt wie der berühmte Wassertropfen auf dem Stein. Es begann in der Highschool mit einem Magengeschwür, und während ihres abgebrochenen Studiums am Georgia Institute of Technology musste sie sogar Medikamente gegen ihre Angstzustände nehmen. Mittlerweile ist die Furcht ihr immerwährender Begleiter geworden. Sie vergiftet Lillys Schlaf, beeinflusst ihre Gedanken, macht sich in ihrem Herzen breit. Die Furcht bestimmt sie.

Sie greift so fest um den Stiel des Vorschlaghammers, dass die Venen in ihren Handgelenken zum Vorschein kommen.

»Das ist doch keine schwarze Magie, verdammt noch mal!«, bellt sie, hebt das schwere Werkzeug in die Höhe und haut den metallenen Pfahl voller Wut in den Boden. Sie schnappt sich einen neuen, geht zur gegenüberliegenden Ecke der Zeltplane und durchbohrt sie mit dem Metall, während sie wild, beinahe verrückt zuschlägt und mindestens so oft danebenhaut, wie sie trifft. Der Schweiß steht ihr auf der Stirn und im Nacken. Sie versucht es immer wieder, nimmt ihr Umfeld für einen Augenblick überhaupt nicht mehr wahr.