In dieser Nacht versieht sie Donnerstag, den ersten November, mit einem großen X.
Der nächste Tag, der zweite November, wird ihr Schicksal, wie das von so vielen anderen auch, für immer verändern.
Am Freitagmorgen ist es klar und bitterkalt. Lilly wacht kurz nach Sonnenaufgang auf, zittert in ihrem Schlafsack. Ihre Nase ist so eisig, dass sie sie kaum spüren kann. All ihre Gelenke schmerzen, während sie sich rasch weitere Klamotten überstülpt, ehe sie aus dem Zelt klettert, sich die Jacke zumacht und in Richtung Joshs Zelt blickt.
Der Riese ist bereits wach, steht neben seinem Zelt und reckt und streckt sich. Eingepackt in seinen Norwegerpullover und seine zerfledderte Weste bemerkt er Lilly und meint: »Ist dir auch kalt genug?«
»Hast du noch so eine dumme Frage auf Lager?«, begrüßt sie ihn, geht zu ihm hin und streckt den Arm nach der Thermoskanne voll dampfendem Pulverkaffee aus, die er in seinen behandschuhten Händen hält.
»Das Wetter macht die Leute verrückt«, sagt er leise und reicht ihr die Kanne. Dann blickt er zu drei Trucks, die mit laufenden Motoren auf der Straße hinter der Lichtung stehen. Sein Atem ist mit jedem Wort sichtbar. »Wir wollen in den Wald, um so viel Brennholz wie möglich zu sammeln.«
»Ich komme mit.«
Josh schüttelt den Kopf. »Habe mich gerade mit Chad unterhalten. Hat sich so angehört, als ob er möchte, dass du auf die Kinder aufpasst.«
»Okay, geht klar.«
»Kannst du behalten«, verkündet Josh und deutet auf die Thermoskanne. Dann schnappt er sich die Axt, die gegen sein Zelt lehnt, und lächelt Lilly an. »Wir sollten bis Mittag zurück sein.«
»Josh«, bittet sie ihn und packt ihn beim Arm, ehe er sich umdrehen kann. »Sei bitte vorsichtig im Wald.«
Sein Grinsen breitet sich über sein ganzes Gesicht aus. »Immer, Püppchen … Immer.«
Dann wendet er sich ab und geht zu der Abgaswolke der drei Trucks, die auf dem Schotterweg warten.
Lilly schaut zu, wie die Männer in die Wagen steigen und auf die Ladeflächen klettern. Lilly kriegt gar nicht mit, wie laut sie sind. Es entsteht ein Höllenaufruhr, als alle drei Trucks auf einmal losfahren – die Stimmen, die einander zurufen, die Türen, die ins Schloss geworfen werden, die Wolken von Kohlenmonoxid, die in die Luft steigen.
In der Aufregung bemerkt weder Lilly noch der Rest des Camps, wie weit der Lärm durch die kalte Morgenluft über die Baumwipfel getragen wird.
Lilly wittert die Gefahr als Erste.
Die Binghams haben sie im Zirkuszelt gelassen, so dass sie auf die vier Mädchen aufpassen kann, die fröhlich zwischen den vielen Tischen, Stühlen, Obstkästen und Gasflaschen spielen. Das Innere des Zelts wird von provisorischen Fenstern erhellt – Laschen von Zeltplanen, die umgeklappt wurden, um so Tageslicht in den Raum strömen zu lassen. Die Luft riecht nach Moder und schimmligem Heu – Gerüche, welche die Plane über Jahrzehnte hinweg in sich aufgesogen haben. Die Mädchen spielen Reise nach Jerusalem mit drei kaputten Gartenstühlen, die sie auf dem eisigen Boden aufgebaut haben.
Lilly macht die Musik.
»Duh-do-do-do … duh-da-da-da«, singt sie halbherzig einen alten Hit von Police. Ihre Stimme ist schwach und leise, was die Kinder aber nicht davon abhält, voller Elan um die Stühle zu tanzen. Lilly ist nicht ganz bei der Sache. Immer wieder blickt sie durch das große Loch in der Zeltplane hinaus auf den Zeltplatz, der im grauen Tageslicht liegt. Es ist kaum jemand zu sehen – diejenigen, die nicht zum Holzsammeln gefahren sind, hocken in ihren Zelten.
Lilly schluckt ihre Furcht hinunter. Die kalte Sonne steigt über die Baumwipfel, und der eisige Wind weht in das riesige Zirkuszelt. Auf dem Hügel tanzen Schatten in dem blassen Licht. Lilly glaubt, ein auffälliges Schlurfen zu hören – vielleicht kommt es aus dem Wald, aber sie kann sich nicht sicher sein. Vielleicht stellt sie sich alles nur vor. Vielleicht sind es ja nur die Geräusche vom flatternden Zelt, und sie stellt sich alles nur vor.
Sie wendet sich von dem großen Eingang ab und schaut sich nach Waffen um. Eine Schaufel ist an eine Schubkarre gelehnt, die bis zum Anschlag mit Erde gefüllt ist. Daneben stehen ein paar Gartengeräte und ein dreckiger Eimer. Aus einem Plastikmülleimer quellen die Überreste von Frühstücks–Papiertellern, an denen noch Bohnen und Eier kleben. Daneben eine Burrito-Verpackung und leere Getränkekartons zusammen mit einem Behälter aus Plastik voll dreckigem Besteck. Es stammt aus einem nachgerüsteten Campervan, und Lilly sieht inmitten der vielen mit Essensresten beklebten Plastiklöffel ein paar scharfe Plastikmesser. Was würde wohl so ein Löffel bei einem geifernden, hungrigen, monströsen Untoten anrichten?
Insgeheim verflucht sie die Anführer, dass sie alle Feuerwaffen mitgenommen haben.
Ein paar ältere Mitbewohner sind noch im Lager, unter anderem Mr. Rhimes, ein paar alte Jungfern aus Stockbridge, ein achtzigjähriger ehemaliger Lehrer namens O’Toole und zwei greise Brüder aus einem Altersheim in Macon. Der Rest: Frauen. Ein paar kümmern sich um die Wäsche und unterhalten sich, während sie am Zaun Wache halten.
Ansonsten gibt es nur noch die Kinder – zehn Geschwisterpaare. Manche haben sich in ihren eigenen Zelten gegen die Kälte verkrochen, andere spielen unter Aufsicht einer Erwachsenen Fußball vor dem verlassenen Bauernhof.
Lilly schaut aus dem Hinterausgang und erspäht Megan Lafferty in der Ferne, die auf der Veranda eines ausgebrannten Hauses sitzt und so tut, als würde sie Babysitten, anstatt Gras zu rauchen. Lilly schüttelt den Kopf. Megan soll auf die Hennessy-Kinder aufpassen. Jerry Hennessy, ein Versicherungsmakler aus Augusta, treibt es jetzt schon seit Tagen mit Megan – und zwar so, dass es jeder mitkriegt. Die Hennessy-Kinder sind mit acht, neun und zehn die zweitjüngsten im Camp. Die jüngsten sind die Bingham-Zwillinge und Ruthie, die gerade erwartungsvoll zu ihrer nervösen Babysitterin aufblicken.
»Nun mach schon, Lilly«, ruft Sarah Bingham, die Hände gegen die Hüften gestemmt. Sie steht neben ein paar Obstkisten und schnappt nach Luft. Die Teenagerin trägt einen hübschen, modischen Pullover aus Angora-Imitat, der Lilly beinahe das Herz bricht. »Sing weiter!«
Lilly dreht sich wieder zu den Kindern um. »Es tut mir leid, aber ich wollte nur …«
Lilly hält inne. Sie hört ein Geräusch von draußen, vom Wald. Es klingt wie ein knarzender, altersschwacher Schiffsrumpf … oder wie das Knarzen in einem spukenden Haus … oder, und das ist wesentlich wahrscheinlicher, wie ein Zombie, der durch umgefallene Bäume stolpert.
»Mädchen, ich …«
Wieder ein Geräusch, diesmal unterbricht es Lilly. Sie schaut zum großen Eingang hinaus. Der Lärm kommt von Osten und lässt Lilly aus einer Entfernung von hundert Metern verstummen. Er stammt wohl aus dem Dickicht von wilden Rosen und Dornsträuchern.
Eine Schar Felsentauben erhebt sich plötzlich aus dem Wald mit der Schnelle eines Feuerwerks. Lilly starrt wie gelähmt auf das Spektakel. Auf einmal ist der Himmel voller grauschwarzer Punkte.
Wie regelmäßig ausgeführte Explosionen fliegen zwei weitere Vogelscharen in der Nähe des Zauns auf. Wahre Hundertschaften von wild flatternden Vögeln fliegen umher, ehe sie sich wie einzelne Tintenkleckse zu einem großen Fleck formieren.
In der Gegend hier gibt es Scharen von Felsentauben – »Luftratten«, wie die Einheimischen sie nennen, obwohl sie die Vögel gerne braten und essen. Manche reden sogar von einer Delikatesse. Aber während der letzten Wochen hieß ihr plötzliches Erscheinen immer, dass etwas Düsteres, Fürchterliches bevorstand, das wenig mit einem Festmahl gemein hatte.