Mit anderen Worten: Er ist nicht mehr und nicht weniger als jeder andere auch, und Lilly verspürt eine Welle der Sympathie für ihn. »Willst du darüber reden?«, fragt sie endlich.
»Yeah, vielleicht schon … vielleicht aber auch nicht … ich weiß nicht.« Er dreht ihr noch immer den Rücken zu. Seine Stimme entweicht ihm wie aus einem undichten Wasserhahn – stoßweise. Die Trauer, die auf seinen Schultern lastet, lässt ihn im Schatten der Kiefern erzittern.
»Es tut mir so leid, Chad.« Lilly nähert sich ihm, legt eine Hand vorsichtig auf seine Schulter. »Ich weiß, es gibt nichts, was man sagen kann … Vor allem jetzt.« Sie redet mit seinem Rücken. Auf dem Plastikstreifen seiner Kappe steht SPALDING. Das kleine Tattoo einer Schlange ragt aus seinem Hemdkragen. »Ich weiß, dass es nur bedingt ein Trost sein kann«, fügt Lilly hinzu, »aber Sarah ist wie eine Heldin gestorben. Sie hat das Leben ihrer Schwestern gerettet.«
»Hat sie das?« Seine Stimme ist kaum lauter als ein Flüstern. »Sie war ein so gutes Mädchen.«
»Das war sie … Sie war toll.«
»Findest du?« Er hat ihr noch immer den Rücken zugewandt, den Blick noch immer zu Boden gerichtet, die Schultern zucken noch immer.
»Ja, das tue ich, Chad. Sie war eine Heldin. Sie war einzigartig.«
»Ehrlich? Glaubst du das?«
»Ja, das glaube ich.«
»Warum hast du dann nicht Gott verdammt noch mal deine Scheißpflicht getan?« Chad dreht sich um und schlägt Lilly so hart mit dem Handrücken, dass sie sich in die Zunge beißt. Ihr Kopf schnellt zurück, und sie sieht Sternchen.
Chad schlägt erneut zu, und Lilly stolpert rückwärts, fällt über in die Luft ragende Wurzeln zu Boden. Chad baut sich über ihr auf, die Hände zu Fäusten geballt, seine Augen blitzen. »Du blöde, nutzlose Kuh! Du hast nur auf meine Mädchen aufpassen sollen, mehr nicht! Sogar ein verkackter Affe hätte das geschafft!«
Lilly versucht wegzurollen, aber Chad trifft sie mit der Stahlkappe seiner Arbeitsschuhe in die Hüfte. Der Schmerz betäubt sie fast. Sie ringt nach Luft, und ihr Mund füllt sich mit Blut. »B… bitte, Cha…«
Er greift nach ihr, reißt sie hoch, hält sie am Sweatshirt fest. Er faucht sie an, sein saurer Atem fühlt sich heiß auf ihrem Gesicht an. »Glauben du und deine Schlampenfreundin etwa, dass das hier eine einzige, große Party ist? Hast du gestern Gras geraucht? Hä? HÄ?«
Chad holt erneut aus und landet einen rechten Haken gegen Lillys Kiefer. Sie sackt zu Boden, landet wie ein Haufen Elend mit zwei angebrochenen Rippen und so viel Blut im Mund, dass sie nicht mehr atmen kann. Eine Eiseskälte ergreift von ihr Besitz, und alles um sie herum verschwimmt.
Sie kann Chad Binghams drahtige Gestalt kaum ausmachen wie er über ihr steht, sich dann auf sie herabfallen lässt, sich mit gespreizten Beinen auf sie setzt. Aus seinem Mund fließt der Speichel unkontrollierter Wut. »Antworte endlich! Hast du Gras geraucht, während du auf meine Kinder aufpassen solltest?«
Lilly verspürt Chads eisernen Griff um ihren Hals. Er schlägt ihren Hinterkopf wiederholt auf den harten Boden. »ANTWORTE MIR, DU VERFICKTE …«
Ohne Vorwarnung erscheint eine dritte Figur hinter Chad Bingham und zieht ihn von Lilly herunter. Lilly ist dankbar, hat aber keine Ahnung, wer ihr Retter in der Not sein könnte.
Sie sieht lediglich eine verschwommene Gestalt – so groß, dass sie sogar die Sonne verdunkelt.
Josh packt Chad Bingham an der Jeansjacke und zerrt ihn dann mit einem gewaltigen Ruck nach hinten.
Ob es an dem schlagartigen Adrenalinschub liegt, der durch Joshs Adern schießt, oder Chads geringem Gewicht, ist ungewiss, aber Chad fliegt durch die Luft wie eine fleischgewordene Kanonenkugel. Er saust in hohem Bogen in Richtung Bäume, verliert einen Schuh und seine Kappe dabei, ehe er mit voller Wucht mit der Schulter zuerst gegen einen riesigen, alten Baum prallt. Die Luft entweicht aus seinen Lungen, und er sackt vor dem Baumstamm zu Boden, versucht zu atmen und blinzelt ungläubig vor sich hin.
Josh kniet sich vor Lilly hin und hebt vorsichtig ihr blutiges Gesicht. Sie versucht zu reden, bringt aber kein Wort über ihre blutverschmierten Lippen. Josh atmet schmerzhaft aus – es hört sich an wie der Schuss einer Feuerwaffe. Irgendetwas an dem Anblick dieses wunderbaren Gesichts mit den sanften Augen und den mit Sommersprossen befleckten Wangen, die jetzt voller rotem Lebenssaft sind, lässt Josh beinahe ausrasten. Ein roter Film legt sich über seine Augen.
Der große Mann richtet sich auf, dreht sich um und geht über die Lichtung auf Chad Bingham zu, der noch immer auf dem Boden liegt und sich vor Schmerz windet.
Josh sieht nur eine undeutliche, milchig-weiße Gestalt unter sich. Das blasse Sonnenlicht scheint durch die neblige Luft. Chad macht einen erbärmlichen Versuch, davonzukriechen, aber Josh hält ihn an einem Bein fest und zieht kurz mit einem harten Ruck, so dass Chad wieder direkt vor ihm liegt. Josh rafft seinen Kontrahenten auf, lehnt ihn mit dem Rücken gegen den Baumstamm.
Chad stottert, Blut quillt aus seinem Mund: »Das geht dich … gar nichts … Biiitttttee … Kumpel … Lass uns darüber …!«
Josh wirft den malträtierten Körper gegen die Rinde der hundertjährigen Eiche. Der Aufprall mit der Wucht eines Rammbocks knackt Chads Schädel und kugelt ihm die Schulter aus.
Chad stößt einen undeutlichen, gurgelnden Urschrei aus, ehe seine Augen nach hinten rollen. Immer und immer wieder schleudert Josh den Mann gegen den alten Baumstamm.
»Ich bin nicht dein Kumpel«, antwortet Josh mit einer beinahe unheimlichen Ruhe und einer samtigen Stimme, die aus einem unerreichbaren, tiefen Ort in ihm stammt, während er den widerstandslosen Mann wieder und wieder gegen den Baum krachen lässt.
Josh verliert so gut wie nie die Kontrolle. Die wenigen Male, die es passiert ist, kann er an einer Hand abzählen: einmal beim American Football, als ein gegnerischer Angreifer – ein Redneck aus Montgomery – ihn einen Nigger genannt hat. Ein anderes Mal, als ein Dieb versucht hat, die Handtasche seiner Mutter zu stehlen. Aber jetzt wütet der Sturm in ihm schlimmer als je zuvor – irgendwie hat er keinerlei Beherrschung mehr über seinen Körper, führt die Bewegungen dennoch kontrolliert aus und rammt Chad Bingham gnadenlos gegen den Baumstamm.
Chads Kopf wackelt hin und her, das dumpfe Geräusch wird mit jedem Aufprall undeutlicher, feuchter, als der Schädel immer mehr nachgibt. Aus Chads Mund quillt Kotze, die sich über Joshs riesige Vorderarme ausbreitet. Aber er merkt gar nichts davon, sieht nur, wie Chads linke Hand nach der Smith & Wesson greift, die er noch im Gürtel stecken hat.
Josh schnappt sich die Waffe und wirft sie unerreichbar für Chad über die Lichtung.
Mit seinem letzten Quäntchen Kraft und einem Gehirn, das von multiplen Erschütterungen und Blutergüssen schon aus seinem gespaltenen Schädel zu fließen beginnt, rafft Chad Bingham sich ein letztes Mal auf und versucht, sein Knie in Joshs Weichteile zu rammen. Der Riese aber blockt den Stoß mit Leichtigkeit ab und holt dann aus, um sein Gegenüber mit einem vernichtenden Schlag zu treffen – einer gewaltigen Rückhand, die wie ein surreales Echo zu dem Schlag erscheint, den Chad vor Kurzem noch Lilly erteilt hatte –, so dass Chad Bingham abhebt.
Er kommt fünf Meter vom Baumstamm entfernt auf und bleibt liegen wie ein nasser Sack.
Josh hört nicht, wie Lilly über die Lichtung hinweg auf ihn zukommt, vernimmt ihre Stimme nicht, wie sie ruft: »Josh, NEIN! NEIN! JOSH, HÖR AUF, DU BRINGST IHN NOCH UM!«
Plötzlich wacht Josh Lee Hamilton auf, blinzelt, als ob er gerade vom Schlafwandeln erwacht sei und nackt die Hauptstraße während der Hauptverkehrszeit hinuntergeht. Er spürt Lillys Hand im Nacken, wie sie um seinen Hals fährt und ihn zurückhält, so dass er sich nicht erneut auf den am Boden kauernden Chad Bingham wirft.