Lilly hält inne, als sie das Knirschen von Schritten vor dem Zelt hört. Ein Schatten so groß wie der eines Monsters verdunkelt das Zelt. Die vertraute Silhouette zögert für einen Augenblick und lungert etwas unbeholfen vor dem Zelteingang herum. Lilly erkennt die Gestalt sofort, sagt aber keinen Ton.
Eine riesige Hand erscheint und zieht die Zeltplane beiseite, ehe das dazugehörige Gesicht erscheint. »Die haben gesagt, ich könnte … Ich habe noch drei Minuten«, sagte Josh Lee Hamilton in einem zu Tränen gerührten Bariton.
»Was soll das denn heißen?« Lilly setzt sich erneut auf und starrt ihren Freund an. »Drei Minuten? Wozu?«
Josh kniet sich vor den Eingang, blickt zu Boden, kämpft gegen seine eigenen Emotionen an. »Drei Minuten, um mich zu verabschieden.«
»Zu verabschieden?«
»Genau.«
»Wie, dich zu verabschieden! Was ist passiert?«
Josh seufzt gequält auf. »Die haben abgestimmt … Und sind zu dem Schluss gekommen, dass es am besten für alle ist, wenn ich meine Sachen packe und verbannt werde.«
»Was?«
»Ist wohl besser, als wenn sie mich am nächsten Baum aufhängen.«
»Aber du hast doch nicht … das war doch … Das war doch ein Versehen, na ja … ein Unfall!«
»Ja, klar doch«, erwidert Josh und blickt zu Boden. »Der arme Sack hat aus Versehen sein Gesicht ein Dutzend Mal gegen meine Faust gerammt.«
»Aber unter welchen Umständen! Wissen die Leute denn überhaupt, was dieser Mann …«
»Lilly …«
»Nein, so geht das nicht. Das ist … falsch.«
»Lilly, die Sache ist gegessen.«
Sie blickt ihn an. »Geben sie dir wenigstens ein paar Vorräte? Vielleicht sogar ein Auto?«
»Ich habe mein Motorrad. Das wird schon, mir geht es gut …«
»Nein … Nein … Das ist einfach … irrwitzig.«
»Lilly, jetzt hör mir gut zu.« Der große Mann rückt etwas näher. Bob schaut peinlich berührt beiseite. Josh beugt sich vor, streckt die Hand nach Lilly aus und streicht ihr behutsam über das verletzte Gesicht. So wie Josh die Lippen zusammenpresst, wie seine Augen glänzen, wie sich die Furchen um seinen Mund vertiefen, ist es eindeutig, dass er eine ganze Flut von Emotionen zurückhält. »So wird es nun einmal gespielt. Das wird schon. Und wegen mir brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Du und Bob, ihr müsst ab jetzt hier aufpassen, die Zügel in die Hand nehmen.«
Lillys Augen füllen sich mit Tränen. »Dann komme ich mit dir.«
»Lilly …«
»Es gibt hier nichts, was mich davon abhalten könnte.«
Josh schüttelt den Kopf. »Es tut mir leid, Kleine … Das ist eine einfache Fahrkarte, die gilt nicht für zwei.«
»Ich komme mit.«
»Lilly, es tut mir wirklich leid, aber das geht nicht. Hier ist es sicherer, in der Gruppe.«
»Ja, hier ist es total sicher«, sagt sie mit eiskalter Stimme. »Geradezu ein Love-In!«
»Lieber hier als da draußen.«
Lilly blickt ihn mit ihren von Leid und Trauer gequälten Augen an. Tränen strömen über ihre Wangen. »Du kannst mich nicht davon abhalten, Josh. Das ist meine Entscheidung. Ich komme mit dir, und du kannst nichts dagegen unternehmen. Wenn du mich davon abhalten willst, werde ich dich suchen, dich aufspüren. Und du kannst mir glauben, ich werde dich finden. Ich komme mit, damit das klar ist. Okay? Also … Gib jetzt Ruhe, und finde dich einfach damit ab.«
Sie knöpft ihre Jacke zu, steckt die Füße in ihre Stiefel und fängt an, ihre Sachen aufzulesen. Josh schaut sie bestürzt an. Lilly bewegt sich zaghaft, zuckt vor Schmerzen, beißt die Zähne zusammen.
Bob und Josh tauschen Blicke aus, kommunizieren ohne Worte miteinander, während Lilly ihre Sachen in die Tasche packt und aus dem Zelt verschwindet.
Josh verweilt noch im Zelteingang, schaut ihr nach und wendet sich dann mit fragendem Blick an den alten Mann.
Bob zuckt endlich mit den Schultern und sagt mit müdem Lächeln: »Frauen!«
Eine Viertelstunde später quellen die Satteltaschen von Joshs onyxfarbener Suzuki über mit Dosenfleisch und Thunfisch, Leuchtfackeln, Decken, wasserfesten Streichhölzern, Seil, einem zusammengepackten Zelt, einer Taschenlampe, einem kleinen Feldkocher, einer Angel, einer kleinen .38er sowie ein paar Papiertellern und Gewürzen aus dem Zirkuszelt. Das Wetter hat sich zum Schlechten geändert. Es stürmt, und der Himmel ist voller dunkler, bedrohlicher Wolken.
Die Witterung verleiht der Situation einen noch dramatischeren Touch. Josh zurrt die Taschen fest und wirft einen Blick über die Schulter auf Lilly, die drei Meter entfernt von ihm am Straßenrand steht und einen überquellenden Rucksack aufsetzt. Sie zuckt vor Schmerz zusammen, als sie an den Riemen zieht.
Im Zeltlager stehen drei Männer und eine Frau mittleren Alters, die selbst ernannten Anführer, und schauen zu. Josh will ihnen etwas Sarkastisches, Vernichtendes zurufen, hält sich aber zurück. Stattdessen wendet er sich Lilly zu und fragt: »Bist du so weit?«
Ehe Lilly antworten kann, ertönt eine Stimme von der östlichen Abgrenzung des Zeltlagers.
»Nicht so eilig, Leute!«
Bob Stookey erscheint hinter seinem Zelt. Er trägt eine große Tasche auf dem Rücken. Man kann hören, wie Flaschen aneinander schlagen – wohl sein privater Vorrat an »Medizin«. Er hat einen merkwürdigen Gesichtsausdruck – eine Mischung aus Erwartung und Verlegenheit und geht ruhigen Schrittes auf sie zu. »Ehe ihr in Richtung Sonnenuntergang fahrt, möchte ich euch noch eine Frage stellen.«
Josh blickt ihn fragend an. »Bob, was soll das? Was geht hier vor sich?«
»Ich will nur eins von dir wissen«, erwidert der alte Sani. »Hast du eine Erste-Hilfe-Ausbildung gemacht?«
Lilly gesellt sich jetzt zu den beiden Männern, die Stirn vor Verwirrung gerunzelt. »Bob, was können wir für dich tun?«
»Eine einfach Frage, Lilly – hat auch nur einer von euch beiden Haudegen einen medizinischen Hintergrund?«
Josh und Lilly tauschen Blicke aus. Josh gibt einen Seufzer von sich. »Nicht dass ich wüsste, Bob.«
»Dann will ich noch eine Frage stellen. Wer in Gottes Namen soll sich um Lillys Auge kümmern, falls es zu einer Infektion kommt?« Er deutet auf Lillys blutiges Sehorgan. »Oder ihre Rippen überprüfen?«
Josh schaut Bob in die Augen. »Was willst da damit sagen, Bob?«
Der alte Mann deutet mit einem Daumen auf seinen Truck, der hinter ihm auf dem Schotterweg steht. »Wenn ihr schon in die große, weite Welt hinauswollt, dann würde ich euch raten, einen von der US-Armee qualifizierten Sanitäter mit dabeizuhaben.«
Sie laden ihr Zeug in Bobs Truck um. Der alte Dodge ist ein Monster – voller Rostnarben und Beulen. Er besitzt einen Camper-Aufsatz auf der langen Ladefläche, dessen Fenster so zerkratzt sind, dass sie wie Milchglas aussehen. Lillys Rucksack und Joshs Seitentaschen passen durch die Hintertür und landen auf diversen Haufen alter, dreckiger Kleidung und halb leeren Flaschen mit billigem Whiskey. Der Aufsatz ist mit zwei klapprigen Kojen, einem großen Kühlschrank, drei mitgenommenen Erste-Hilfe-Kästen, einem zerfledderten Koffer, zwei Gasflaschen, einer alten Arzttasche aus Leder, die aussieht, als ob sie aus einem Pfandleihgeschäft stammt, und einer Reihe von Gartenwerkzeugen ausgestattet, die gegen die Wand zur Fahrerkabine gelehnt sind – darunter Schaufeln, eine Hacke, einige Äxte und eine furchterregend aussehende Heugabel. Die gewölbte Decke ist hoch genug, dass man im gebückten Gang darin gehen kann.
Als er seine Taschen verstaut, sieht Josh Teile eines großkalibrigen Gewehres herumliegen, aber keine Munition. Bob trägt eine .38er mit kurzem Lauf bei sich, aber mit der ein ruhendes Ziel in zehn Metern Entfernung bei Windstille zu treffen wäre ein Kunststück – selbst in nüchternem Zustand, welches bei Bob nicht allzu oft der Fall ist. Josh macht sich nichts vor, er weiß, dass sie Waffen und Munition brauchen, wenn sie nicht als Zombie-Futter enden wollen.