Er tritt aus dem Camper-Aufsatz und schließt die Tür hinter sich. Plötzlich verspürt er ein Brennen im Nacken, als ob ihn jemand beobachten würde.
»Hey, Lil!«
Die Stimme kommt ihm bekannt vor, und als er sich umdreht, sieht er Megan Lafferty, das Mädchen mit den dicken braunen Locken und der freizügigen Libido. Sie steht keine zwei Wagenlängen entfernt neben dem Schotterweg. Sie hält Händchen mit dem Pot-Raucher – wie heißt er noch mal? –, der mit den strähnigen blonden Haaren im Gesicht und dem verdreckten Pullover. Steve? Shawn? Josh kann sich nicht erinnern. Das Einzige, was er noch weiß, ist, dass er den ganzen Weg von Peachtree City Megans Herumhuren dulden musste.
Jetzt stehen die beiden Drückeberger vor ihm und starren ihn wie Raubvögel an.
»Hey, Meg«, beginnt Lilly sanft und etwas skeptisch, als sie um den Truck herum kommt und sich neben Josh stellt. In der unbehaglichen Stille kann man Bob hören, wie er unter der Motorhaube werkelt.
Megan und der Pot-Raucher kommen vorsichtig näher. Megan wählt ihre Worte gut, als sie Lilly anspricht: »Dude, ich habe gehört, ihr sucht euer Glück woanders.«
Der Pot-Raucher neben Megan fängt zu kichern an. »Glückssucher, hehe …«
Josh wirft dem Jungen einen Blick zu. »Und was können wir für euch gute, junge Menschen tun?«
Megan starrt weiterhin Lilly an. »Lil, ich wollte nur sagen … Äh … Ich hoffe, du bist nicht sauer auf mich oder so.«
»Warum sollte ich denn auf dich sauer sein?«
Megan senkt den Blick. »Mir sind da ein paar Sachen über die Lippen gekommen … Ich habe nicht gewusst, was sich sage … Ich wollte nur … Ach, keine Ahnung. Ich wollte mich nur bei dir entschuldigen.«
Josh mustert Lilly, und in dem kurzen Augenblick, ehe sie Megan antwortet, sieht er in ihr den Kern, der Lilly Caul ausmacht: Ihr verprügeltes Gesicht nimmt einen weichen Ausdruck an, ihre Augen füllen sich mit Vergebung. »Du musst dich für nichts entschuldigen, Meg«, beruhigt Lilly ihre Freundin. »Wir versuchen doch alle nur, das Beste draus zu machen.«
»Der hat dir wirklich eins gewischt – verdammt!«, staunt Megan, als sie Lillys kaputtes Gesicht aus der Nähe sieht.
»Lilly, wir müssen uns auf die Socken machen«, meldet sich Josh zu Wort. »Es wird bald dunkel.«
Dann beugt sich der Pot-Raucher zu Megan und flüstert: »Hey, willst du sie jetzt fragen oder nicht?«
»Was willst du denn fragen, Meg?«, will Lilly wissen.
Megan fährt sich mit der Zunge über die Lippen und wendet sich dann an Josh. »Das ist totale Scheiße, wie die dich behandeln, man.«
Josh nickt ihr kurz angebunden zu. »Danke, Megan, aber wir müssen jetzt los.«
»Nehmt uns mit.«
Josh wirft Lilly einen Blick zu, aber sie starrt ihre Freundin an. Endlich meint sie: »Äh, du musst verstehen, die Sache ist so …«
»Je mehr wir sind, desto sicherer ist es, man!«, wirft der Pot-Raucher mit einem nervösen Kichern in die Runde. »Wir sind total auf dem Kriegspfad, man!«
Megan hebt plötzlich die Hand. »Scott, wenn du mal nur zwei Minuten die Klappe halten könntest.« Dann wendet sie sich wieder an Josh. »Wir können keine Minute länger hier mit diesen Scheißfaschisten bleiben. Nicht nach dem, was sie mit dir angestellt haben. Das Ganze hier geht den Bach runter, keiner traut dem anderen mehr.«
Josh verschränkt die Arme und erwidert ihren Blick. »Du bist an alldem nicht ganz unschuldig.«
»Josh …« Lilly möchte auch etwas dazu sagen.
Megan senkt den Kopf und steht da wie ein begossener Pudel. »Nein, lass sein, Lilly. Es stimmt ja alles. Das habe ich mir schon selbst eingehandelt. Vielleicht habe ich einfach … einfach die Regel vergessen.«
In der darauffolgenden Stille – man kann lediglich den Wind in den Bäumen rauschen und Bob unter der Motorhaube fummeln hören – rollt Josh die Augen. Er kann es selbst kaum fassen, was er jetzt sagen will. »Dann holt mal eure Siebensachen – und macht schnell!«
Megan und Scott sitzen hinten in dem Camper-Aufsatz. Bob fährt. Josh ist auf dem Beifahrersitz, während Lilly in dem kleinen Raum hinter den beiden kauert. Der Truck hat hinter den beiden vorderen Sitzen eine schmale, herunterklappbare Koje, die gleichzeitig als Sitz dienen kann. Lilly hat es sich dort mehr schlecht als recht bequem gemacht und hält sich an dem Geländer fest. Mit jedem Schlagloch oder jeder Kurve fährt es ihr in die Rippen, dass sie am liebsten laut aufschreien würde.
Sie sieht, wie die Bäume an beiden Seiten des Straßenrands immer dunkler werden, während sie die kurvenreiche Straße durch die Obsthaine entlangfahren. Die Schatten des Spätnachmittags werden immer länger, und die Temperaturen fallen schlagartig. Die Heizung des klapprigen Trucks kämpft hoffnungslos gegen die eindringende Kälte an, und die Luft in der kleinen Fahrerkabine stinkt nach altem Schnaps, Rauch und Schweiß. Durch die Lüftung dringen die für den Herbst in Georgia so typischen Gerüche von Tabakfeldern und vermoderndem Obst ein. Sie dienen als Warnung für Lilly, dass sie sich immer weiter von der Zivilisation entfernen.
Sie fängt an, zwischen den Bäumen Untote zu sehen – jeder Schatten, jeder dunkle Ort ein mögliches Versteck für eine Bedrohung. Der Himmel ist leer, keine Vögel, keine Flugzeuge oder sonstigen Lebewesen. Stattdessen herrschen tote Kälte, und riesige graue Wolken lassen ihn wie einen gewaltigen grauen Gletscher aussehen.
Sie biegen auf die 362 ab – die Hauptverkehrsstraße durch Meriwether County –, als die Sonne sich zum Horizont senkt. Aufgrund der vielen Autowracks und verlassenen Laster auf dem Asphalt fährt Bob langsam und behutsam, nie schneller als fünfzig. In der Dämmerung erscheinen die beiden Fahrbahnen blaugrau, und die Dunkelheit breitet sich langsam über die mit Kiefern und Sojabohnen bewachsenen Hügel aus.
»Wie lautet unser Plan, Captain?«, fragt Bob, als sie erst ein paar Kilometer gefahren sind.
»Plan?« Josh steckt eine Zigarre an und öffnet das Fenster. »Du musst mich mit einem deiner Kommandeure verwechseln, die du im Irak wieder zusammengeflickt hast.«
»War nie im Irak«, erwidert Bob, den Flachmann zwischen den Beinen. Er nimmt heimlich einen Schluck. »Hab in Afghanistan gedient, und wenn ich ehrlich mit dir bin, gefällt es mir da mittlerweile besser als hier.«
»Ich kann dir nur sagen, dass mir geraten wurde, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Und genau das habe ich auch vor.«
Sie fahren über eine Kreuzung. Auf dem Schild steht FILBURN ROAD, ein staubiger, trostloser Pfad mit Gräben an beiden Seiten, der sich zwischen zwei Tabakfeldern entlang zieht. Josh merkt sich den Ort und fragt sich insgeheim, wie weise es wohl ist, im Dunkeln auf offener Straße zu fahren. Laut sagt er: »Ich bin am Überlegen … Vielleicht ist es nicht so klug, allzu weit von …«
»Josh!« Lillys Stimme unterbricht ihn jäh und übertönt den Lärm der ratternden Fahrerkabine. »Da sind Zombies! Schau doch nur!«
Josh blickt in die Richtung, in die sie deutet. Bob steigt auf die Bremse, so dass der Truck ins Schleudern kommt, ehe er anhält. Lilly wird gegen den Sitz geworfen. Ein scharfer Schmerz durchfährt ihre Rippen, und es ist ihr, als ob man sie mit einer stumpfen Schneide aufgeritzt hätte. Sie hören, wie Megan und Scott gegen die Trennwand zur Fahrerkabine geworfen werden.
»Heiliges Kanonenrohr!«, schimpft Bob und reißt mit seinen verwitterten Händen am Lenkrad. Seine Knöchel werden weiß, während der Truck im Leerlauf vor sich hin nagelt. »Heiliges Haubitzenrohr!«
Josh sieht die Menge der Untoten in der Ferne. Es sind mindestens vierzig oder fünfzig – vielleicht sogar mehr, in dem dämmrigen Licht schwer zu schätzen. Sie umschwärmen einen umgestürzten Schulbus. Von ihrer Warte aus scheint es, als ob nasse Kleidung aus dem Bus quillt, die die Zombies durchgehen. Rasch aber wird es jedem klar, dass es sich um menschliche Überreste handelt. Und dass die Zombies am Fressen sind.