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»Okay, Josh … Es ist wirklich nicht nötig, dass … Es tut mir leid … Es tut mir ja so leid!«

Josh blickt sie an. Es kommt ihm vor, als ob er Lilly in einem ganz neuen Licht sieht, als ob sie unscharf vor ihm schwebt. Ihre Augen scheinen so weit weg wie in einem Traum.

Lilly Caul erwidert seinen Blick mit Tränen in den Augen, und ihr Herz zieht sich zusammen. Sie will ihn halten, diesen sanften Koloss trösten, seine gigantischen Schultern streicheln und ihm sagen, dass alles wieder gut werden wird. Sie hat sich noch nie einem menschlichen Wesen so nahe gefühlt, und es bringt sie beinahe um den Verstand. Sie verdient seine Zuneigung, seine Freundschaft, seine Loyalität, seinen Schutz, seine Liebe gar nicht. Was kann sie sagen? Deine Mutter ist jetzt an einem besseren Ort? Sie weigert sich, einen derart berührenden Moment mit solch schnöden Klischees zu besudeln.

Sie will gerade den Mund aufmachen, um etwas zu sagen, als Josh mit leiser Stimme anfängt, ohne den Blick von ihr zu wenden: »Sie hat diese Viecher zum Essen eingeladen … Sie hereingebeten … Wie streunende Hunde … Wie immer. Sie hat alle Kreaturen unter Gottes Himmel geliebt.« Der große Mann sackt zusammen, seine Schultern beben, während Sturzbäche von Tränen sich von seinem markanten Kinn auf die Jägerjacke ergießen. »Hat sie wahrscheinlich auch noch ›Liebes‹ genannt … bis zu dem Augenblick, an dem sie sich auf sie geworfen und gefressen haben.«

Dann senkt er den Kopf und stößt einen fürchterlichen Ton aus – halb Schluchzer, halb wahnsinniges Lachen …

Lilly rutscht näher an ihn heran, legt ihm eine Hand auf die Schulter. Zuerst sagt sie nichts. Sie berührt seine gewaltigen Hände, die die Schrotflinte auf seinen massigen Oberschenkeln umklammern. Er blickt sie an – sein Gesichtsausdruck lässt ahnen, was in diesem Augenblick in ihm vorgeht. »Tut mir leid, dass ich so …«, beginnt er kaum hörbar flüsternd.

»Das macht gar nichts, Josh. Ist schon gut. Ich bin hier, bin immer für dich da. Ich bin hier.«

Er neigt den Kopf zur Seite, wischt sich die Wangen und Augen und versucht zu lächeln. »Sieht ganz so aus.«

Sie küsst ihn – rasch, aber doch auf die Lippen –, kaum mehr als eine freundliche Geste. Das Ganze ist in weniger als zwei Sekunden vorbei.

Josh legt die Flinte zur Seite, umarmt Lilly und erwidert die Geste. Die sich widersprechenden Emotionen fließen durch Lilly, als der große Mann seine Lippen auf den ihren verweilen lässt. Sie fühlt sich, als ob der Schnee sie davonträgt. Sie versteht die tieferen Gefühle nicht, die sie schwindelig werden lassen. Tut der Mann ihr leid? Manipuliert sie ihn etwa schon wieder? Er schmeckt nach Kaffee und Rauch und Fruchtkaugummi. Der kalte Schnee legt sich auf Lillys Augenlider, die Hitze von Joshs Lippen schmilzt die Kälte. Er hat so viel für sie getan. Sie schuldet ihm so viel, ihr Leben und mehr. Sie öffnet den Mund, drückt ihre Brust gegen die seine, aber plötzlich entzieht er sich ihr.

»Was ist los?« Sie schaut ihn fragend an, sucht in seinen großen, traurigen braunen Augen nach einer Antwort. Hat sie etwas Falsches getan? Hat sie eine Grenze überschritten?

»Nichts. Gar nichts, Kleines.« Er lächelt, beugt sich zu ihr hinab und küsst sie auf die Wange. Es ist ein warmer, sanfter Kuss, der mehr verspricht.

»Alles Timing, verstehst du?« Dann liest er die Schrotflinte vom Boden auf. »Ist nicht sicher hier … fühlt sich nicht richtig an.«

Für einen Augenblick ist Lilly sich unsicher, ob er damit den Wald oder sie und ihn meint. »Es tut mir leid, wenn ich …«

Er legt ihr sanft einen Finger auf die Lippen. »Ich will nur, dass alles richtig ist … Wenn die Zeit kommt.«

Sein Lächeln ist das so pur, so süß. Lilly hat in ihrem ganzen Leben noch nie ein solch reines Gesicht gesehen. Sie erwidert es, und Tränen steigen ihr in die Augen. Wer hätte das gedacht? Inmitten all dieses Horrors, dieser Katastrophe – ein perfekter Gentleman?

Lilly will gerade etwas sagen, als ein ungewohntes Geräusch ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Josh hört ein entferntes Schlagen von Hufen und drängt Lilly sanft hinter sich. Er hebt den Lauf der Schrotflinte. Das Traben kommt immer näher. Josh entsichert die Waffe.

Zuerst glaubt er, dass er halluziniert. Über ihnen erscheint eine ganze Herde Tiere. Sie wirbeln Staub und auf dem Boden liegendes Laub hinter sich auf. Zuerst kann man sie gar nicht ausmachen, so schnell sind sie. Die Tiere kommen direkt auf sie zu. »Runter mit dir!« Josh reißt Lilly hinter den auf dem Boden liegenden Baumstamm am Rand des Flussbetts.

»Was ist das?«, will sie wissen und nimmt hinter dem wurmstichigen Holz Deckung.

»Abendessen!« Josh hebt die Schrotflinte und zielt auf die immer näher kommende Herde Rotwild, hauptsächlich Hirschkühe. Sie haben die Ohren nach hinten gelegt und die Augen weit aufgerissen. Aber irgendetwas hält Josh zurück. Sein Herz fängt heftig zu pochen an, er kriegt am ganzen Körper Gänsehaut. Plötzlich weiß er, was hier vor sich geht.

»Josh, was ist los?«

Die Herde rennt an ihnen vorbei, bricht Äste ab und wirbelt Steine auf.

Josh richtet die Flinte auf die dunklen Schatten, die hinter den Tieren erscheinen. »Lauf, Lilly!«

»Was? … Nein!« Sie stellt sich hinter dem Baumstamm auf und sieht, wie die Herde durch das Flussbett donnert. »Ich lasse dich nicht allein zurück!«

»Nun mach schon! Ich bin direkt hinter dir!« Josh zielt mit der Flinte auf die Gestalten, die jetzt die Böschung herabkommen und sich durch das Gebüsch kämpfen.

Lilly sieht die Schar Zombies auf sie zustolpern. Es sind mindestens zwanzig. »Ach du Scheiße!«

»LAUF!«

Lilly eilt durch den Kies des Flussbetts, rutscht aus, findet erneut Halt und verschwindet dann im Schatten des angrenzenden Waldes.

Josh zielt auf die erste Reihe des immer näher kommenden Schwarms.

Auf einmal, in dem kurzen Augenblick, ehe er abdrückt, sieht er die merkwürdig geformten Gestalten, komisch angebrannte Gesichter und Kostüme, die kaum noch zu erkennen sind. Plötzlich weiß er, mit wem er es zu tun hat. Das sind die ehemaligen Besitzer des großen Zirkuszelts – es sind die unglückseligen Mitglieder des Cole Brothers’-Familienzirkus.

Sechs

Josh drückt ab.

Der Schuss ertönt, und die Schrotkörner bohren sich in einen der Liliputaner. In sechs Metern Entfernung reißt es den kleinen Zombie von den Füßen. Er kracht in drei weitere Zwerge mit blutigem Clown-Make-up und schwarzen Zähnen. Die kleinen deformierten Zombies gehen zu Boden.

Josh wirft einen letzten Blick auf die surrealen Eindringlinge, die ihm immer näher kommen.

Hinter den Zwergen drängt sich eine kunterbunt zusammengemischte Horde von toten Künstlern und Darstellern auf ihn zu. Ein riesiger, starker Mann mit Zwirbelbart und offen klaffenden Muskeln stolpert neben einer fürchterlich fetten, verwesenden Frau auf ihn zu. Sie ist halb nackt, Rollen von Fett verdecken ihre Genitalien. Ihre milchigen Augen stecken tief in ihrem Gesicht wie abgestandener Teig.

Die Nachhut besteht aus einem Haufen toter Zirkusangestellter, Freaks und Schlangenmenschen, die dumpf hinter dem Vortrupp hertaumeln. Schwachmatische Spitzköpfe, ihre winzigen Münder in der Luft schnappend, stolpern neben zerlumpten Trapezkünstlern mit von Wundbrand entstellten Gesichtern; sie tragen zerfetzte, mit Pailletten bestückte Kostüme. Das Pack kommt stoßweise näher – so wild und hungrig wie ein Schwarm Piranhas.

Josh nimmt die Beine in die Hand und überquert das Flussbett mit einem Satz.