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An jenem Tag tauscht Josh sein gutes Chef-Messer ein – ein japanisches Shun – gegen Bettwäsche, Handtücher und Seife und überredet Lilly, ihre Sachen in die Wohnung über der chemischen Reinigung zu bringen. Dort können sie sie sich endlich richtig waschen und haben mehr Platz als in dem vollgestopften Camper-Aufsatz. Lilly bleibt den Großteil des Tages in der Wohnung, schreibt beflissen auf einer Rolle Geschenkpapier an ihrem Tagebuch und plant ihre Flucht. Josh hält stets ein Auge auf sie. Irgendetwas fühlt sich nicht richtig an. Es ist so schlimm, dass er es gar nicht in Worte fassen kann.

Scott und Megan sind wie von der Bildfläche verschwunden. Lilly ist fest davon überzeugt, dass Megan mittlerweile die Nase voll von Scott hat und sich für Gras prostituiert.

An jenem Nachmittag besucht Bob Stookey die beiden Mediziner im Stadion, das ein Labyrinth aus Kellern und Arbeitsbereichen beherbergt. Eine Reihe von Räumen wurde in eine behelfsmäßige Krankenstation umfunktioniert. Während der eiskalte Regen dumpf und in einem nicht enden wollenden Dröhnen auf die metallenen Träger und Streben prasselt, erhält Bob von einem Mann mittleren Alters und einer jungen Frau eine ausführliche Führung.

»Alice lernt wirklich sehr, sehr schnell. Sie hat sich in sehr kurzer Zeit zu einer bemerkenswerten Schwester gemustert«, erklärt der Mann mit Drahtgestellbrille und dreckigem Arztkittel, als er Bob und die junge Frau durch eine offen stehende Tür in eine unordentliche Praxis bittet. Er heißt Stevens und ist fit, intelligent und recht ironisch, was Bob für irgendwie fehl am Platz hält. Die Ersatz-Schwester trägt einen Kittel älteren Baujahrs, sieht aber selbst noch erstaunlich jung aus. Ihr bleiches blondes Haar ist in Zöpfe geflochten und aus ihrem jugendlichen Gesicht nach hinten gezogen.

»Ich bin noch am Lernen«, sagt sie und folgt den Männern in den spärlich beleuchteten Raum, dessen Boden von einem Generator zum Vibrieren gebracht wird, der irgendwo in den Katakomben des Stadions vor sich hin nagelt. »Und obwohl ich erst die Sachen vom zweiten Studienjahr durchgehe, komme ich einfach nicht weiter.«

»Ach, ich bin mir sicher, dass Sie schon viel mehr wissen als ich«, beteuert Bob. »Ich bin nur ein alter Schlachtfeld-Sani.«

»Sie hat letzten Monat ihre Feuertaufe bestanden«, fährt der Doktor fort und stellt sich neben einem ramponierten Röntgenapparat auf. »Das Geschäft hat ganz schön gebrummt.«

Bob wirft einen Blick um sich, sieht überall Blutspritzer an den Wänden, Anzeichen chaotischer Triage, also will er wissen, was passiert ist.

Der Arzt und die Schwester tauschen mulmige Blicke aus. »Machtwechsel.«

»Wie bitte?«

Der Doktor seufzt. »An einem Ort wie diesem kann man eine Art natürliche Auswahl beobachten. Nur die wahren Soziopathen überleben. Nicht unbedingt nett, das mit anzuschauen.« Er holt tief Luft und lächelt dann Bob an. »Trotzdem, verdammt gut, einen weiteren Kollegen an Bord zu haben.«

Bob fährt sich mit der Hand über den Mund. »Bin mir gar nicht sicher, wie hilfreich ich sein kann, aber ich muss schon zugeben: Es würde mir gut gefallen, mich einmal auf einen echten Arzt berufen zu können.« Bob deutet vage auf eine der alten, mitgenommenen Maschinen. »Wie ich sehe, haben Sie eine Siemens. Mit so einer bin ich durch Afghanistan gekurvt.«

»Tja, wir sind hier nicht gerade auf dem allerneuesten Stand der Dinge, haben aber die Grundbedürfnisse mit Gerätschaften aus umliegenden Krankenhäusern abgedeckt … Spritzen, Infusionen, ein paar Monitore, EKG, EEG … Allerdings fehlt es uns an Arzneimitteln.«

Bob erzählt ihnen von den Pharmazeutika, die er vom Walmart hat mitgehen lassen. »Da können Sie sich ruhig bedienen«, bietet er an. »Obendrein habe ich auch ein paar gut ausgestattete Bereitschaftstaschen, Extraverbände und so weiter und so fort. Nehmen Sie, was Sie brauchen.«

»Das ist wirklich sehr hilfreich, Bob. Von wo stammen Sie?«

»Aus Vicksburg, hab aber in Smyrna gewohnt, als das mit der Plage angefangen hat. Und Sie?«

»Atlanta«, erwidert Stevens. »Hatte eine kleine Praxis in Brookhaven, ehe alles den Bach runtergegangen ist.«

»Auch Atlanta«, meldet sich die junge Frau. »Habe an der Georgia State studiert.«

Stevens schaut Bob gutmütig an. »Heute schon genippt, Bob?«

»Hä?«

Stevens deutet auf den silbernen Flachmann, der aus Bobs Hüfttasche herauslugt. »Ob Sie heute schon etwas getrunken haben.«

Bob senkt niedergeschlagen und beschämt den Kopf. »Ja, das habe ich.«

»Trinken Sie jeden Tag, Bob?«

»Ja.«

»Hartes Zeug?«

»Ja.«

»Bob, ich will Sie nicht in Verlegenheit bringen.« Der Arzt klopft ihm auf die Schulter. »Es geht mich ja eigentlich nichts an. Ich beurteile Sie auch nicht, aber darf ich fragen, wie viel Sie von dem Zeug täglich zu sich nehmen?«

Bobs Brust verkrampft sich vor Schmach. Alice wendet respektvoll den Blick ab, und er schluckt seine Scham hinunter. »Das weiß ich selber nicht so genau. Manchmal eine halbe Flasche, manchmal eine ganze, wenn ich sie kriegen kann.« Bob wagt einen Blick auf den dünnen Arzt. »Ich verstehe schon, wenn Sie nicht wollen, dass ich mich auch nur in der Nähe Ihrer Patienten …«

»Bob, entspannen Sie sich. Sie verstehen nicht. Ich finde es fantastisch.«

»Hä?«

»Trinken Sie nur weiter. Trinken Sie so viel, wie Sie wollen.«

»Wie bitte?«

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, etwas davon zu teilen?«

Bob holt langsam seinen Flachmann hervor und starrt Stevens staunend an.

»Vielen Dank.« Er nimmt den Flachmann, nickt Bob dankend zu und nippt daran, ehe er sich mit dem Ärmel über den Mund fährt und den Flachmann Alice reicht.

Die Schwester winkt ab. »Nein, danke. Das ist noch ein bisschen früh für mich.«

Stevens nimmt einen weiteren Schluck, ehe er Bob den Flachmann zurückreicht. »Wenn man länger hierbleibt, ist es absolut notwendig, sich jeden Tag die Birne vollzuknallen.«

Bob steckt den Flachmann wieder ein und sagt kein Wort.

Stevens lächelt ihn an, und es hat etwas Herzzerreißendes an sich. »Ich verordne Ihnen hiermit, stets so betrunken wie möglich zu sein, Bob.«

Auf der anderen Seite der Rennstrecke, hinter der nördlichen Tribüne, erscheint eine drahtige, stark angespannte Gestalt aus einer nicht beschrifteten Metalltür und starrt gen Himmel. Der Regen hat kurzzeitig aufgehört, der Himmel hängt voller niedriger, dunkler Wolken. Der drahtige Gentleman trägt ein kleines Paket, eingewickelt in einer abgenutzten, grasfarbenen Wolldecke. Zusammengehalten wird das Päckchen von einem Lederriemen.

Der drahtige Mann überquert die Straße und geht den Bürgersteig entlang. Sein rabenschwarzes Haar glänzt vor Nässe und ist zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

Während er so vor sich hinspaziert, sucht er mit den Augen sein gesamtes Umfeld ab, ist stets auf der Hut. Ihm entgeht nichts, was um ihn herum passiert. Während der letzten Wochen sind die Emotionen wieder etwas abgeklungen, unter denen er so sehr gelitten hat, die Stimme in seinem Kopf verstummt. Jetzt fühlt er sich stark. Dieses Städtchen ist sein Lebensinhalt, sein Raison d’être, der eigentliche Grund dafür, dass er weiterhin scharfsinnig und in Form bleibt.

Er will gerade um die Ecke der Kreuzung von der Canyon- und der Hauptstraße biegen, als er im Augenwinkel eine Gestalt wahrnimmt. Der ältere Mann – der Saufbruder, der vor ein paar Tagen mit dem Schwarzen und dem Mädchen hier aufgetaucht ist – kommt aus der Krankenstation im Südflügel der Rennstrecke. Der wettergegerbte, alte Mann hält für einen Moment inne, nimmt einen Schluck aus seinem Flachmann, und der drahtige Mann kann die Miene des alten Trinkers sehen, nachdem er die brennende Flüssigkeit die Gurgel hinuntergeschüttet hat.