Während der gesamten Attacke kauert sie auf dem Boden, hat die Hände über die Ohren gestülpt. Sie kann Josh bei der Waldgrenze nicht sehen, der sich jetzt endlich den Stil des Vorschlaghammers geschnappt und im letzten Augenblick aus dem Kadaver gerissen hat, um ihn in Richtung des nächsten Zombies zu schwingen. Sie weiß nicht, dass das stumpfe Ende des Hammerkopfs auf den Unterkiefer des Untoten trifft und aufgrund der unglaublichen Gewalt des Schlages den gesamten verrottenden Kopf pulverisiert. Und Lilly verpasst auch den letzten Teil des Kampfes, wie die Frau beinahe ihre schwarzen Schneidezähne in Joshs Ferse versenkt, ehe sie eine Schaufel im Hinterkopf trifft. Mehrere Männer haben sich gerade noch rechtzeitig zu Josh durchgekämpft, um den letzten Zombie zu eliminieren, und Josh rollt beiseite, unversehrt, aber zitternd vor Aufregung wegen des nur um Haaresbreite entgangenen Endes als Untoter.
Der gesamte Angriff – mittlerweile unter Kontrolle – hat weniger als hundertachtzig Sekunden gedauert.
Später zählen Chad und seine weiteren Alphatier-Kumpane vierundzwanzig Untote, die sie in das ausgetrocknete Flussbett etwas südlich vom Zeltplatz zerren. Das ist eine durchaus erträgliche Anzahl Angreifer … zumindest bis jetzt.
»Verdammt, Lilly. Warum schluckst du es nicht einfach runter und entschuldigst dich bei dem Mann?« Die junge Frau namens Megan sitzt auf einer Decke vor dem Zirkuszelt und starrt auf das Frühstück, von dem Lilly noch keinen Bissen genommen hat.
Die Sonne steht schon im blassen, kalten, klaren Himmel – ein weiterer Tag in der Zeltstadt –, und Lilly hockt vor einem ramponierten Campingkocher und nippt an ihrem Papierbecher voll Kaffee. Die geronnenen Überreste gefriergetrockneter Eier liegen in der Bratpfanne, während Lilly versucht, Schuldgefühle und Scham des vergangenen Tages nach einer schlaflosen Nacht abzuschütteln. Diese Welt lässt weder den Erschöpften noch den Feigen Zeit zum Verschnaufen.
Rund um das große, zerfledderte Zirkuszelt – mittlerweile fertig aufgebaut – wuseln die Überlebenden. Es kommt einem beinahe so vor, als ob die Attacke des Vortags nie stattgefunden hätte. Man trägt Campingstühle und -tische durch die breite Öffnung, die früher wahrscheinlich mal als Eingang für Elefanten oder Feuerwagen für Clowns gedient haben dürfte, in das große Zelt. Die Außenwände flattern im sich ständig drehenden Wind. Die Bewohner sind beschäftigt, weitere Unterschlupfmöglichkeiten im ganzen Camp zu errichten. Väter sammeln Feuerholz, überprüfen Vorräte an Wasser, Munition, Waffen und Konserven, während Mütter auf die Kinder aufpassen und sich um Decken, Mäntel und Medizin kümmern.
Bei genauerem Hinsehen würde ein geschulter Beobachter eine nur dünn verschleierte Unruhe in jeder Bewegung erkennen. Nur eines bleibt unklar: Welches stellt die größte Bedrohung dar – die Zombies oder der drohende Winter?
»Ich weiß immer noch nicht, was ich sagen soll«, murmelt Lilly endlich und nippt erneut an ihrem lauwarmen Kaffee. Ihre Hände zittern nach wie vor. Seit der Attacke sind achtzehn Stunden vergangen, aber Lilly verspürt unvermindert die Scham, vermeidet jeden Kontakt mit Josh, ist davon überzeugt, dass er sie nun hasst, weil sie ihn einfach so dem sicheren Tod überlassen hat. Josh hat schon mehrere Male versucht, ein paar Worte mit ihr zu reden, aber es war ihr einfach zu viel gewesen, und sie hat ihn stets abblitzen lassen, ist ihm ausgewichen und hat ihm erzählt, dass es ihr nicht gut gehe.
»Was gibt es da schon zu sagen?« Megan sucht in ihrer Jeansjacke nach der Haschpfeife. Dann krümelt sie ein kleines Stückchen Gras hinein und zündet es mit einem Feuerzeug an, ehe sie tief daran zieht. Die junge Frau in ihren späten Zwanzigern mit olivfarbener Haut und mit hennagefärbten Locken, die ihr schmales, durchtriebenes Gesicht einrahmen, bläst den grünen Rauch aus und hustet. »Schau dir doch nur den Typen an! Der ist riesig!«
»Und was zum Teufel soll das heißen?«
Megan grinst. »Der sieht so aus, als ob er auf sich selbst aufpassen kann. Nicht mehr, nicht weniger.«
»Das hat doch damit nichts zu tun.«
»Schläfst du mit ihm?«
»Was?« Lilly starrt ihre Freundin entgeistert an. »Was soll das denn?«
»Ist doch eine einfache Frage.«
Lilly schüttelt den Kopf und stöhnt laut auf. »Eine Frage, die ich nicht mal einer Antwort würdige …«
»Nein, oder? Ach, du gutes, kleines, braves Ding. Gut bis zum Letzten.«
»Hörst du jetzt endlich damit auf?«
»Aber warum denn nur?« Megans Lächeln verzieht sich zu einem Grinsen. »Warum hast du so ein Exemplar noch nicht bestiegen? Ich meine, worauf wartest du noch? Dieser Körper … Der ist doch reif zum Pflücken …«
»Jetzt hör endlich auf damit!«, fährt Lilly ihre Freundin wütend an, so dass ihr ein scharfer Schmerz durch den Kopf schießt. Obwohl sie das Herz auf der Zunge trägt und ihre Stimme zittert, ist Lilly überrascht von der Lautstärke ihres Ausrufs. »Ich bin nicht wie du … okay? Ich fliege nicht von einem zum anderen. Verdammt, Meg. Ich komme gar nicht mehr hinterher. Mit wem teilst du gerade dein Bett?«
Megan wirft ihrer Freundin einen Blick zu, hustet und lädt ihre Pfeife erneut. »Weißt du was?«, fragt Megan und reicht Lilly das brennende Gras. »Warum ziehst du nicht mal daran, um ein bisschen runterzukommen, ein bisschen zu chillen?«
»Nein, danke.«
»Aber das ist gute Medizin für dich. Das lässt den Stock in deinem Arsch verschwinden.«
Lilly reibt sich die Augen und schüttelt den Kopf. »Du bist vielleicht ein Miststück, Meg.«
Megan zieht erneut und bläst dann den Rauch in die Luft. »Lieber ein Miststück als ein Stück Scheiße.«
Lilly sagt nichts, schüttelt nur weiter den Kopf. Die traurige Wahrheit ist, dass Lilly sich manchmal gar nicht so sicher ist, ob genau das auf Megan Lafferty zutrifft – ist sie ein Stück Scheiße? Die beiden kennen sich seit dem letzten Jahr an der Sprayberry Highschool in Marietta. Damals waren sie untrennbar gewesen, hatten alles von Hausaufgaben über Drogen bis hin zu Freunden geteilt. Aber dann begann Lilly, die Karriereleiter zu erklimmen, verbrachte zwei Jahre des Fegefeuers am Massey College of Business in Atlanta, ehe sie zum Georgia Institute of Technology wechselte, um ihr A.-Studium zu beginnen, das sie nie abgeschlossen hat. Sie hatte es in der Modebranche zu etwas bringen wollen, wollte ein eigenes Geschäft aufmachen, aber für ihr erstes Interview war sie nicht weiter als bis zur Rezeption von Mychael Knight Fashions gekommen – es ging um ein hoch begehrtes Praktikum –, ehe sie gekniffen hatte. Ihr alter Wegbegleiter – die Furcht – war wieder einmal aufgetaucht, um ihre Pläne zu durchkreuzen.
Es war die Furcht gewesen, die sie aus der eindrucksvollen Rezeption hatte fliehen lassen, um nach Hause nach Marietta zurückzukehren. So konnte sie ihr Luderleben mit Megan weiterführen, Gras rauchen, auf Sofas rumgammeln und Wiederholungen von Project Runaway im Fernsehen schauen.
Aber während der letzten Jahre hat sich etwas in ihrer Beziehung geändert, etwas Fundamentales. Lilly spürte es tief im Inneren, es war wie eine Sprachbarriere. Megan besaß keinerlei Ehrgeiz, keinen Willen, keine Ausrichtung, und es kratzte sie nicht die Bohne. Lilly aber hegte immer noch Träume – hoffnungslose vielleicht, aber trotzdem Träume. Insgeheim wollte sie nach New York oder eine Webseite aufbauen oder zurück zur Rezeption von Mychael Knight und sagen: »Huch, tut mir leid. Ich musste nur mal kurz eineinhalb Jahre Luft schnappen …«